Politik

Warum IS-Rückkehrer so gefährlich sind

IS-Kämpfer wollen nun in ihre Heimatländer zurück. Terror-Experte Stockhammer über Rückkehrer, den Fall Azad G. und die Rolle von Frauen im IS.

Heute Redaktion
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"Heute.at": Derzeit kursiert ein Video eines mutmaßlichen IS-Terroristen, der aus Wien stammt. Was ist über Azad G. bekannt?

Dr. Nicolas Stockhammer: Der besagte Verdächtige ist ein kurdischer Alevit, der sich offenbar sozial abgewandt, radikalisiert und zum Islamismus bekannt hat. Es gibt mehrere Thesen über seine Radikalisierung – etwa, dass er von Anwerbern direkt angesprochen wurde. Für mich ist glaubhafter, dass er über Freunde und Online-Foren in diese Kreise gekommen ist.

Wieso das?

Radikalisierung erfolgt meist über einen direkten Zugang zu einem inneren Kreis. Man kann sich nur sehr schwer vorstellen, dass jemand auf der Straße angesprochen wird und sich unvermittelt anschließt. Es muss vorher schon eine gewisse "Bereitschaft" signalisiert werden.

Laut Medienberichten soll G. zwischenzeitlich in Österreich "Urlaub" gemacht haben, nur um danach zum IS zurückzukehren. Was steckt dahinter?

Nach derzeitigem Kenntnisstand war es so, dass er am Bein angeschossen wurde und sich behandeln ließ – meines Wissens in der Türkei und nicht in Österreich. Er kam als österreichischer Staatsbürger ins Land zurück und wurde in Verwahrung genommen.

Es wurde ein Verfahren eröffnet, doch offenbar gab es zu jenem Zeitpunkt nicht ausreichend Beweise für eine Involvierung in kriegerische Auseinandersetzungen des IS in Syrien. Deshalb durfte er wieder ausreisen – über die Türkei offenkundig nach Syrien.

"Die Personen, die in den Dschihad gezogen sind, waren meist schon in diesem inneren Kreis der Radikalisierten."

Personen aus Österreich beim IS

Knapp 100 "Foreign Fighters" aus Österreich sollen sich derzeit noch in Kriegsgebieten aufhalten. 30 Prozent dieser Menschen besitzen laut Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) die österreichische Staatsbürgerschaft. Nach Angaben von Innenminister Herbert Kickl (FPÖ), der sich auf Experten beruft, könnten "30 bis 60 Personen" nach Österreich zurückkehren wollen. Nach Angaben des BVT kamen bis Anfang 2019 ca. 90 "Foreign Fighters" zurück ins Land.

Wie funktioniert die Radikalisierung in Österreich – ähnlich wie bei Azad G.?

Die Personen, die in den Dschihad gezogen sind, waren meist schon in diesem inneren Kreis der Radikalisierten. Zumeist irregeleitete Abenteuersuchende und Renegaten. Aber man geht prinzipiell davon aus, dass die Radikalisierung gegenwärtig nach wie vor zu einem überwiegenden Teil zuerst online erfolgt.

Zur Person

Dr. Nicolas Stockhammer forscht unter anderem zu Geopolitik, Kriegssoziologie und Sicherheitspolitik mit dem Schwerpunkt Terrorismus. Er lehrt an der Universität Wien und ist für die Landesverteidigungsakademie tätig - die höchste militärische Bildungs- und Forschungseinrichtung des Österreichischen Bundesheeres.

Dort schließen sich diese Personen über Foren und resultierende Kontakte in kleineren Gruppen zusammen und erhalten den ideologischen Zündstoff, um ihre Radikalisierung weiter voranzutreiben. Elemente hierfür sind Frustration, Zorn, Ideen (Ideologien), Personen (Verstärker) und eine inhärente Gewaltneigung.

Gibt es heute weniger Radikalisierung als zur Hochzeit des IS?

Nein. Es gibt ein gewisses Radikalisierungspotenzial zum politischen Islam und das ist meines Erachtens gleichbleibend hoch. Vielleicht war es eine gewisse Zeit lang graduell etwas höher, als der IS noch gewisse militärische "Erfolge" zu verzeichnen hatte, aber die subversive Sprengkraft dieser extremistischen Bewegung ist nach wie vor gegeben.

"Ein Weniger an Terrormiliz und Kalifat bedeutet bedauerlicherweise automatisch ein höheres Potenzial für Terroranschläge in Europa."

Wie steht es um die IS-Propaganda?

Das war zwischenzeitlich natürlich ein riesiges Thema. Dadurch, dass der IS als Terrormiliz in Syrien und im Irak sukzessive an Boden verloren hat, ist die Relevanz aber zurückgegangen. Der IS kann aus heutiger Sicht nur noch dadurch "punkten", dass er Terroranschläge verübt oder Anschläge einzelner Personen für sich reklamiert.

Meine These: Der IS lebt als Terrororganisation weiter. Ein Weniger an Terrormiliz und Kalifat bedeutet bedauerlicherweise automatisch ein höheres Potenzial für Terroranschläge in Europa.

2014 gingen die Wiener Schülerinnen Sabina S. (damals 15) und Samra K. (damals 16) nach Syrien, um sich dem IS anzuschließen. Wie ist deren Situation derzeit?

Ich weiß, dass es Bestrebungen gab, diese Frauen zurückzuholen – aus humanitären Gründen. Wie weit solche Bemühungen gediehen sind, kann ich nicht sagen. Es ist aus meiner Sicht aber davon auszugehen, dass die beiden früher oder später zurückkommen könnten, sollten sie willens und in der Lage dazu sein.

"In Gefängnissen findet eine 'Hardcore'-Radikalisierung statt."

Wie konnten zwei Wiener Schülerinnen überhaupt radikalisiert werden?

Radikalisierung, das hat man in den letzten Jahren gesehen, beginnt schon früh. Die Schule als sozialer Raum ist potenziell anfällig und aufgrund der sozialen Segregation häufig ein wesentlicher Nährboden der Radikalisierung. Der größte Hort der Radikalisierung ist natürlich der Justizvollzug.

In Gefängnissen findet eine "Hardcore"-Radikalisierung statt. Da werden moderate Muslime oder Menschen, denen Religion grundsätzlich egal ist, dann oftmals ultra-salafistisch geprägt oder dschihadistisch radikalisiert.

Aus welchen Motiven schließen sich Männer und Frauen dem IS an? Die Rollen sind ja ziemlich unterschiedlich.

Den jungen Männern wird die Aussicht auf einen Heldenstatus als Krieger im Dschihad schmackhaft gemacht, dazu werden hingebungsvolle Frauen und schließlich die Glückseligkeit im Paradies versprochen, wenn sie als Helden im "Heiligen Krieg" fallen. Bei den Frauen ist es eher die Aussicht auf ein "reines" islamisches Leben, in dem sie sich frei bewegen und entfalten können. Zumindest laut der Propaganda.

"Man hat gesehen, dass manche Frauen im IS radikaler sind als die Kämpfer, die an der Front die Schlachten ausfechten."

Wie ergeht es den Frauen im Dschihad?

Nach unseren Standards werden sie eher patriarchalisch und zurückgedrängt behandelt. Sie haben eine subsidiäre Rolle, müssen dem Kämpfer im Dschihad dienen und in jeder Form gefügig sein. Dazu gehört, sich an diese normierte untergeordnete Rolle im Lebensvollzug komplett anzupassen.

Man hat gesehen, dass manche Frauen im IS radikaler sind als die Kämpfer, die an der Front die Schlachten ausfechten. Es gab auch etliche Frauen, die todunglücklich waren und zurückkommen wollten, aber dort festgehalten wurden – als Gefangene und Sexsklavinnen. Aus meiner Sicht – und man muss immer den Einzelfall betrachten – waren die meisten jedenfalls in ihren Erwartungen von den realen Umständen vor Ort massiv enttäuscht.

"Wenn jetzt noch mehr Kämpfer zurückkommen sollten, wird man zwangsläufig an die Grenzen der Kapazitäten stoßen."

Inwiefern geht von IS-Rückkehrern eine Gefahr aus?

In jeder Hinsicht. Natürlich muss man alle sehr engmaschig überwachen, die nicht sofort in U-Haft kommen. Das ist insofern schwierig, weil eine 24/7-Rundum-Überwachung von Gefährdern pro Tag ein Observationsteam von 15 bis 16 Personen benötigt. Da kann sich jeder vorstellen, dass die Kapazitäten limitiert sind, um das sachgemäß durchzuführen. Wenn jetzt noch mehr Kämpfer zurückkommen sollten, wird man zwangsläufig an die Grenzen der Kapazitäten stoßen.

Warum sind die Rückkehrer so gefährlich?

Diese Personen sind radikalisiert, teilweise enthemmt. Sie haben an brutalen Gewalthandlungen teilgenommen, etwa Exekutionen und Kriegshandlungen. Vielleicht haben sie nicht nur Kriegsverbrechen, sondern auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen.

Teilweise sind sie ideologisiert, manche sind auch desillusioniert und haben gesehen, dass die Gewalt zu nichts führt. Ein gewisser Anteil dieser Personen hat ein großes Gewaltpotenzial, hat gelernt "wie es geht" und die Hemmschwelle überschritten. Für solche Leute ist es sicherlich nicht so eine große Überwindung, jemanden zu töten, wie für einen normalen, psychisch gesunden Menschen.

Wie schätzen Sie die Terror-Lage in Österreich ein?

Es wird nach wie vor darüber diskutiert, ob die Amokfahrt in Graz nicht doch als Terroranschlag zu qualifizieren ist. Da gibt es durchaus Hinweise, die darauf hindeuten könnten. Es wird auch darüber debattiert, ob der Doppelmord an einem älteren Ehepaar durch einen Gemüsehändler in Linz dschihadistisch motiviert war. Er hat im Vorfeld auch IS-Propaganda konsumiert.

Es hat auch den einen oder anderen versuchten Anschlag gegeben, der glücklicherweise nicht umgesetzt werden konnte. Ich würde nicht behaupten, dass Österreich so unbedeutend ist, dass es immer von dschihadistischer Gewalt verschont geblieben ist. Gott sei Dank gab es noch keine großen Terroranschläge wie in London oder Paris, aber das ist für die Zukunft nicht völlig auszuschließen.

"Es ist nicht so unwahrscheinlich, dass ein Terroranschlag in Österreich passiert."

Fühlen wir uns in Österreich zu sicher?

Die Wahrscheinlichkeit eines Einzelnen, Opfer eines Terroranschlags zu werden, ist relativ gering. Es ist 100-mal wahrscheinlicher, bei einem Autounfall ums Leben zu kommen als bei einem Terroranschlag.

Aber es ist nicht so unwahrscheinlich, dass ein Terroranschlag in Österreich passiert. Es gab 2017 in Österreich 48 Verhaftungen aus dem dschihadistischen Spektrum. Da ist Österreich in absoluten Zahlen an fünfter Stelle in ganz Europa und bereinigt auf die Einwohnerzahl sogar Spitzenreiter. Die Zahlen für 2018 werden erst im Laufe des Jahres kommen.

Was könnte geschehen, wenn der IS aus der letzten Bastion im Osten Syriens verdrängt wird?

Da gibt es mehrere Optionen. Einige Analysten behaupten, der IS verlagert sich nach Libyen, es gibt auch im Irak nach wie vor Schlupflöcher. Überall in den angrenzenden Regionen, wo fragile Staatlichkeit vorherrscht, gibt es für den IS oder eine Nachfolge-Organisation ein gewisses Potenzial. Ich glaube dennoch nicht, dass in nächster Zukunft ein neues Kalifat entsteht. Islamistische Tendenzen werden in ganz Europa stark bleiben und wieder zurückkommen – auch in Form von Terroranschlägen.



Ihre Prognose für 2019?

Ich habe keine Glaskugel, aber ich würde davon ausgehen, dass es 2019 wieder den einen oder anderen größeren Anschlag in Europa geben wird – vor allem in den großen Metropolen.

"Der Terrorismus könnte sich verlagern und mehr regional als transnational werden."

Angenommen, der IS wird besiegt. Was kommt danach?

Es gibt mehrere Szenarien. Wenn der IS besiegt ist, kann Al-Qaida wieder stärker werden. Davon gehen einige Experten aus – nicht zu Unrecht. Al-Qaida hat zuletzt wieder massiv zugewonnen, vor allem in asiatischen und afrikanischen Regionen. Aus dem IS könnte sich auch eine neue Gruppierung herausbilden, gleichsam als Nachfolge-Organisation.

Der Terrorismus könnte sich verlagern und mehr regional als transnational werden. Es gibt viele Optionen, man muss abwarten. Wenn Sie 2012 Terror-Experten – mich eingeschlossen – gefragt hätten, ob es eine neue Terrororganisation vom Schlag eines IS geben würde, wären viele skeptisch gewesen oder hätten es sogar verneint.

US-Präsident Trump fordert von Europa, die gefangenen "Foreign Fighters" zurückzunehmen, andernfalls müsse man sie freilassen. Was kann man mit diesen Menschen tun?

Niemand will sie zurück. Die Kurden haben mehrere Optionen. Sie könnten sich einfach "abputzen" und alle freilassen. Die "Foreign Fighters" würden über ganz Europa verstreut und man hätte überhaupt keine Kontrolle über den Rückfluss. Das wäre der sicherheitspolitische Super-GAU. Die Drohung ist jedenfalls berechtigt, auch bzw. gerade wenn sie von Trump kommt.



Und die anderen Optionen?

Es wäre möglich, ein Tribunal nach Vorbild der Nürnberger Prozesse vor Ort einzurichten. Die Frage ist aber: Nach welchem Standard? Unter wessen Vorsitz? Man müsste etwa eine Gesetzesänderung andenken und sogar einen neuen Tatbestand eröffnen, der Terrorismus in eine ähnliche Kategorie wie Kriegsverbrechen stellt. Dann wäre es leicht, diese dschihadistischen Kämpfer auch entsprechend zu verurteilen.

"Viele von diesen Personen sind österreichische Staatsbürger und haben damit jederzeit das Recht, zurückzukehren."

Innenminister Kickl hat angekündigt, die Kämpfer und ihre Frauen nicht zurücknehmen zu wollen …

Zu sagen "Die gehen uns nichts an", wird rechtlich leider nicht gehen, befürchte ich. Denn die Rechtslage ist ziemlich klar: Viele von diesen Personen sind österreichische Staatsbürger und haben damit jederzeit das Recht, zurückzukehren. Dass das an ein Strafverfahren gekoppelt sein kann und muss, wenn sie Teil einer terroristischen Vereinigung waren, steht außer Zweifel. Ich sehe aus rechtlicher Sicht zum derzeitigen Stand kaum Alternativen.

Der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) will Azad G., der türkischer Doppelstaatsbürger sein soll, nun die österreichische Staatsbürgerschaft entziehen ...

Aufbauend auf dem menschenrechtlich verbürgten Grundsatz, dass jedes Individuum ein Recht auf Staatszugehörigkeit hat, kann man eine Staatsbürgerschaft nur dann entziehen, wenn gewährleistet ist, dass diese Person nicht staatenlos wird. Im Falle einer Doppelstaatsbürgerschaft könnte dies möglicherweise funktionieren. Damit ist jedoch auch fraglich, ob und inwieweit Österreich dann noch Einfluss auf die Strafverfolgung nehmen kann.

Die Bundesregierung strebt eine Sicherungshaft für Asylwerber an. Könnte dieses Instrument auch für Dschihadisten Verwendung finden?

Unter den Asylwerbern, die sich in Österreich befinden, könnten theoretisch Dschihadisten sein. Das muss man im Einzelfall prüfen und ich würde dies niemals kategorisieren. Ob die Rückkehrer in diese Kategorie fallen, steht wieder auf einem anderen Blatt.

Wahrscheinlich wäre die angedachte Sicherungshaft, wie gesagt, im berechtigten Einzelfall ein gangbares Hilfsinstrument. Wenn unklar ist, ob eine Person aktiv beim IS involviert war, könnte man sie unter diesem Titel festhalten und eruieren, was die Faktenlage ist. Das ist aber noch zu unausgegoren, um hier eine definitive Aussage zu treffen.

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