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"Die Eltern brauchen einen Schuldigen"

Heute Redaktion
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Der zweijährige Julen ist in Spanien in ein 100 Meter tiefes Loch gefallen – und konnte seither nicht geborgen werden. Ein Spezialist erklärt, was die Eltern durchmachen.

Die Bergung des kleinen Julen aus einem engen und mehr als hundert Meter tiefen Bohrloch in Spanien kommt nur mühsam voran. Am Donnerstag, dem fünften Tag der Suche, schwindet die Hoffnung, den Jungen noch lebend bergen zu können. Was die Eltern durchmachen, kann sich kaum jemand vorstellen. Einer, der das kann, ist Herbert Wyss.

Wyss ist zur Stelle, wenn Leute Amok laufen, Schulen von Gewaltvorfällen erschüttert werden oder schlimme Unfälle oder Verbrechen Menschenleben kosten. Als Leiter eines Kriseninterventionsteams im Thurgau (Schweiz) ist er erfahren in der Betreuung schockierter Angehöriger. Im Interview erklärt uns der Experte, was Julens Eltern derzeit durchmachen, was ihnen hilft – und was nicht.

Herr Wyss, am Sonntagnachmittag ist der zweijährige Julen auf einem Familienausflug in ein Erdloch gefallen und konnte bisher nicht geborgen werden. Die Eltern harren an der Unglücksstelle aus und übernachten im Auto. Was machen sie durch?

Ihre Situation ist furchtbar, keine Frage. Sie sind völlig machtlos und können nichts tun, damit ihr Kind schneller geborgen wird. Gleichzeitig sind sie hin- und hergerissen zwischen Trauer und Hoffnung.

Die Eltern haben sich zornig geäußert gegenüber den Rettern und sich geärgert, dass die Bergung von Julen so lange dauert.

Das ist typisch. Sie brauchen einen Schuldigen. Ihre Situation ist so unerträglich, sie müssen ihren Schmerz irgendwie auslagern.

Was ist mit Schuldgefühlen?

Auch das ist häufig. Oder dass sich das Paar verkracht, dass die Mutter dem Vater beispielsweise vorwirft, er habe zu wenig gut auf den Kleinen geschaut. Aber soweit ich das beurteilen kann, ist das Geschehene hier ein tragischer Unfall, wie er leider immer wieder vorkommt.

Die Eltern haben 2017 schon einmal ein Kind durch einen Herzinfarkt verloren, nun ist Julen verschwunden. Reißen da nicht alte Wunden wieder auf?

Tatsächlich kommt es sehr darauf an, ob und wie die Eltern den Verlust des größeren Bruders verarbeitet haben oder ob sie ihn nur verdrängen. Dann kann es, auch wenn man ihnen im Alltag nichts anmerkt, innerhalb Kürze zu einer erneuten Traumatisierung kommen. Bis ein Trauma entsteht, geht es rund sechs Monate. Eine Retraumatisierung aber kann in fünf Minuten geschehen. Dafür reicht manchmal allein der Satz "Mit Ihrem Kind ist etwas geschehen".

Seit mehreren Tagen bangen die Eltern nun nahe der Unfallstelle auf Neuigkeiten. Sie kennen solche Situationen aus Ihrem Beruf. Wie stehen Sie Angehörigen bei in diesen langen Momenten?

Wir können ihnen den Schmerz nicht nehmen. Aber wir können ihnen helfen, damit sie der Schmerz im schlimmsten Fall nicht noch härter trifft, sondern dass sie lernen, ihn in den Griff zu bekommen. Das Kind ist seit mehr als vier Tagen in einem extrem engen, tiefen Schacht. Seine Chance, noch am Leben zu sein, ist nicht besonders hoch. Wir müssen die Eltern in ihrer Hoffnung unterstützen und gleichzeitig realistisch bleiben. Ihnen mit einfachen Fragen helfen, ihre eigenen Befürchtungen und Bilder hervorzuholen . Die Eltern sagen dann vielleicht, sie wollen an der Hoffnung festhalten. Und gleichzeitig sprechen sie aus, dass sie wissen, dass es ein Wettlauf gegen die Zeit ist.

Ein spanischer Politiker twitterte, er glaube fest daran, dass der Junge lebend geborgen wird. Hilft das den Eltern?

Nach dieser langen Zeit des Vermissens finde ich es etwas unfair. Es hilft den Eltern nicht dabei, realistisch zu denken. Aber Politiker sind immer im Wahlkampf. Verkünden sie schlechte Nachrichten, können sie Stimmen verlieren.

Die Eltern haben im Auto geschlafen, wollten nicht weg vom Ort des Geschehens, obwohl ihnen das Einsatzteam vor Ort dazu geraten hat.

Es überrascht mich nicht, dass sie nicht wegwollten. Und ich finde, das ist zu respektieren. Alles, was ihnen hilft in dieser Situation, hat Priorität. Wäre ich dort im Einsatz, würde ich versuchen, ihnen den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen, ihnen beispielsweise einen Wohnwagen organisieren auf einem Platz, der nicht unmittelbar beim Unglücksloch liegt, um ihnen so auch Schutz zu sichern.

Dort nämlich könnte die Leiche des Kindes geborgen werden...

Genau. Hier wäre es möglich, dass ich das tote Kind noch vor den Eltern sehen würde. So kann ich ihnen schildern, was für ein Anblick sie erwartet. Falls es stark verwundet ist, können die Ärzte vor Ort vielleicht auch noch ein bisschen kaschieren. Darauf gehe ich zu den Eltern und sage ihnen, wo die schweren Verletzungen des Kindes sind. Danach beschreibe ich immer etwas Positives. Ich habe noch nie einen toten Menschen gesehen, an dem ich nichts Schönes fand. Ich teile den Eltern dann mit, dass ihr Kind eine rosige Gesichtsfarbe habe oder ein Lächeln auf den Lippen. Und danach weise ich nochmals darauf hin, dass man halt die Wunden sehe, an denen ihr Kind gestorben sei. Es ist wichtig, dass die Eltern zu ihren Kindern können. Vor allem die Mütter wollen ihre Söhne und Töchter unbedingt sehen. Väter sind manchmal etwas zurückhaltender.

Und wenn die Eltern dann vor ihrem toten Kind stehen?

Meistens dauert es nicht lange und die Eltern beginnen, mit ihrem Kind zu sprechen, es zu streicheln. Die Verletzungen treten in den Hintergrund. Manche meinen, sie hätten nicht die Zeit erhalten, von ihrem Kind Abschied zu nehmen, wichtige Dinge zu klären. Ich ermuntere sie, das in diesem Moment zu tun. Sie können auch etwas von ihrem Kind mitnehmen, ein Stück vom T-Shirt oder eine Haarsträhne zum Beispiel. Aus diesem Grund habe ich immer ein Taschenmesser mit Schere dabei. Die Eltern erzählen mir von ihrem Kind, was für ein liebes Kind es gewesen sei. Bei aller Trauer gibt es auch schöne Elemente in diesen Momenten.

Zu Ihrem Job gehört auch das Überbringen von Todesnachrichten.

Ja, und daran gewöhnt man sich nicht. Es ist wirklich hart, eine Todesnachricht zu überbringen. Die Polizei ist in der Regel froh, wenn ich das übernehme. Ich habe lange mit Fachpersonen darüber gesprochen, wie man das am besten macht. Wenn ich mit Polizeibeamten aufkreuze, ist den Angehörigen im ersten Moment klar, dass etwas geschehen sein muss. Ich rücke deshalb gleich damit heraus, sage gleich zu Beginn, dass ihr Kind gestorben ist. Dann ist das Schlimmste schon raus. Und natürlich sind wir da, solange es nötig ist. Wir arbeiten wenn nötig zu zweit im Schichtdienst und schauen, dass die Angehörigen am Anfang nie allein sind.

Wie gehen Sie selbst mit den Bildern und Eindrücken Ihrer Arbeit um?

Ich achte darauf, dass ich mit mir und meinen Nächsten im Einklang bin, und schaffe Ungeklärtes und Probleme möglichst sofort aus der Welt. Meine Frau und meine Tochter wissen das. Weil ich bei meiner Arbeit manchmal auch bedroht werde, haben wir ganz offen darüber gesprochen.

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    (zos)

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