Politik

Kern will Sparefroh-Kurs von Merkel und EU stoppen

Heute Redaktion
Teilen

Nach Flüchtlingen und Türkei geht Kanzler Kern (SP) auch bei der EU-Sparpolitik auf Distanz zu Angela Merkel. In einem Beitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" fordert er eine Investitionsoffensive.

Nach Flüchtlingen und Türkei geht . In einem Beitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" fordert er eine Investitionsoffensive.

Die EU sei „in den Augen ihrer Bürger zum Förderer einer unfairen Modernisierung geworden, die nur einigen wenigen nützt“, schreibt Kern gleich zu Beginn. Er fällt ein vernichtendes Urteil über die Wirtschafts- und Sparpolitik der Union: "Viele Menschen in Europa haben nachhaltig unter dieser Politik gelitten, ebenso wie ihr Glaube an das Wohlstandsversprechen der europäischen Einigung." Die wesentliche Ursache der "nachhaltigen Krise in Europa" sei das niedrige Investitionsniveau. Kerns Gegenmittel: ein "Plan für Europa, der durch Investitionen und Innovationen Wachstum und mehr Wohlstand generiert".

Die Lohnentwicklung müsse wieder nach oben gehen, die Arbeitslosigkeit sinken, und es müssten "mehr gute Jobs entstehen, von denen die Menschen leben können". Der Juncker-Fonds, der Investitionen über 315 Milliarden auslösen soll, reiche nicht aus. "Selbst die Verdoppelung der Mittel (Vorschlag von Frankreichs Präsident Hollande, Anm.) wird wohl nicht genug sein." Auch dann wäre das Konjunkturprogramm im Vergleich zu jenem in den USA "noch immer vergleichsweise bescheiden".

Kern: "Wir brauchen einen Plan für Europa"





Die EU ist in den Augen ihrer Bürger zum Förderer einer unfairen Modernisierung geworden, die nur einigen wenigen nützt. Sie kann das Vertrauen nur zurückgewinnen, wenn sie die Menschen vor den sozialen Verwerfungen der Globalisierung schützt.

  Von Christian Kern, Bundeskanzler der Republik Österreich

  Liest man die bisher erschienenen Essays der Serie "Zerfällt Europa?", dann bietet sich ein Panoptikum der Freudlosigkeit: Krisen, Terror, Fluchtbewegungen, institutionelle Blockaden, Stagnation, Wutbürgertum und Abkehr der Wähler - so lauten, im Stakkato, die Bestandsaufnahmen. Wer bisher nicht pessimistisch war, der wird es nach der geballten Lektüre.

  Es gibt für all diese Diagnosen gute Gründe. Dennoch drängt sich die Frage auf, ob dieser grassierende Pessimismus nur aus der Analyse der Probleme folgt oder ob er nicht selbst auch Teil des Problems ist.

  Eine zukunftsbejahende europäische Perspektive zu entwickeln wird aber nicht durch Suggestion gelingen. Und schon gar nicht, wenn wir weiter die Antworten auf die brennenden Fragen schuldig bleiben. Die liegen auf der Hand: Wie schaffen wir wieder mehr Wachstum und Arbeitsplätze, von denen die Europäerinnen und Europäer auch gut leben können? Wie kommt der erwirtschaftete Wohlstand bei allen an, nach Jahren, in denen für einen zunehmenden Teil der europäischen Bevölkerung die Realeinkommen nicht gewachsen oder sogar gefallen sind? Wie gehen wir mit Migration und den Flüchtlingsbewegungen Richtung Europa um? Wie machen wir Europa zu einem Projekt, das wieder den Rückhalt aller hat und nicht als ein Modell der Eliten gilt? Wir können das alles auch in einer zentralen Frage zusammenfassen: Wie lösen wir das Wohlstandsversprechen und auch das Sicherheitsversprechen wieder ein? Und verhindern, dass der Aufstieg des Rechtspopulismus die europäische Einigung von innen zersetzt?

  Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die Europäische Union wieder zu dem machen können, was sie ursprünglich war: ein Projekt der Hoffnung, ein Projekt, das bei den Bürgerinnen und Bürgern wieder an Legitimität gewinnt. Wenn wir die richtigen Antworten geben.

  Antieuropäische Stimmungen grassieren. Das britische Brexit-Votum ist Ausdruck einer Krise und zugleich die Verschärfung derselben. In vielen europäischen Ländern gewinnen nationalistische und populistische Parteien gefährlich an Terrain. Das ist längst nicht mehr nur eine österreichische Sicht. Spätestens nach der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern stellt sich diese Frage auch in Deutschland mit Dringlichkeit. Wir müssen klar sehen, warum das so ist. Dass in Brüssel zu viel reguliert wird, dass sich die Institutionen in wenig transparenten Entscheidungsprozessen abarbeiten, dass die Machtbalance von Mitgliedstaaten, Kommission, Rat und Parlament schlecht austariert ist - all das ist richtig, aber nicht der Kern des Problems.

  Die entscheidende Ursache ist: Vor fünfzehn, zwanzig Jahren noch war die Europäische Union in den Köpfen der Mehrheit der Unionsbürger verbunden mit Wohlstand, Fortschritt und Modernisierung. Die EU war ein Versprechen, dass es allen, oder zumindest den meisten, künftig besser gehen würde.

  Heute beobachten wir - insbesondere seit Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise - wirtschaftliche Stagnation, eine enttäuschend schwache Entwicklung der Investitionen sowie eine dramatische Entwicklung am Arbeitsmarkt. Insbesondere in den Krisenländern des Südens grassieren seit geraumer Zeit Jugendarbeitslosenraten von 40 bis 50 Prozent. Das Ergebnis: Am Arbeitsmarkt herrscht ein zunehmender (Konkurrenz-)Druck, die öffentlichen Budgets sind belastet. Neoliberale Apologeten und konservative Politiker versuchen, die Finanz- und Wirtschaftskrise in eine Krise des europäischen Wohlfahrtsstaates umzudeuten. Unsicherheit macht sich breit.

  Das macht viele anfällig für einfache populistische Formeln, für einen neuen Nationalismus als Verheißung, mit den Flüchtlingen und Zugewanderten als denen, die an allem schuld sind. Dazu kommt, dass die Digitalisierung im Verein mit der Globalisierung eine revolutionäre Veränderung unserer Arbeitswelt bringen wird.

  Gleichzeitig verschieben multinationale Konzerne - praktisch unter unseren Augen - ihre Gewinne auch innerhalb Europas in jene Länder, in denen sie kaum besteuert werden. Die Steuerakte Apple hat gezeigt, wie brüchig die Solidarität innerhalb der europäischen Staaten ist, wenn es darum geht, sich wirtschaftliche Vorteile gegenüber anderen EU-Ländern zu organisieren. Das entschlossene Vorgehen der EU-Kommission gegen diese Praktiken kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Es läutet den notwendigen Politikwechsel ein, und die Losung dafür kann nur heißen: Weg mit dem Wettbewerb um die niedrigsten Steuern, und Großkonzerne sollen endlich dort ihre Steuern zahlen, wo sie Geschäfte machen.

  Luxleaks, Panama Papers und globale Multis, die sich ihrer gerechtfertigten Steuerverpflichtung entziehen, sind ein Anschlag auf die europäische Idee der Gerechtigkeit. Schlimmer noch, die mangelnde Solidarität der Staaten zersetzt die Solidarität der Bürger. Es ist ernüchternd genug, dass es weder in der Migrationsfrage noch in der Steuerfrage gelungen ist, eine gemeinsame europäische Lösung zu finden, die der Idee der europäischen Einheit entspricht. In diesem Umfeld können die Menschen die Vorteile der europäischen Integration nicht mehr erkennen. Es entsteht vielmehr der Eindruck, dass es sich einige wenige "richten" können, während die Masse der Menschen mit ihren Problemen und Sorgen alleingelassen werden.

  Larry Summers, der legendäre Finanzminister Bill Clintons, der globalisierungskritischer Sentiments völlig unverdächtig ist, hat unlängst formuliert: Im Kern ist diese Revolte gegen die Globalisierung "nicht eine Folge von Dummheit. Es ist ein Gespür, und gewiss kein völlig unberechtigtes, dass die globale Integration von Eliten für Eliten vorangetrieben wird mit wenig Beachtung der Interessen normaler Leute."

  Ob der Kommissionspräsident zu viel Macht hat oder eher der Ratspräsident, ob das EU-Parlament zu wenig Kompetenzen hat, all das sind wichtige Fragen, aber sie interessieren die Bürger doch nicht wirklich. Wirklich interessiert sie, ob diese Europäische Union ihre Lebenschancen verbessert oder ob sie dazu beiträgt, sie zu reduzieren. Das ist die Quelle unserer Malaise. Und wenn wir hier keinen Kurswechsel hinbekommen, dann wird die Idee Europa weiter erodieren. Europa muss wieder ein Projekt der Aufklärung werden, nicht der Märkte. Wer Europa neu denken will, muss es wieder relevant für die Menschen machen. Jaques Delors hatte recht, als er sagte, dass sich niemand in einen Binnenmarkt verliebt.

  Ich bin seit knapp vier Monaten Bundeskanzler meines Landes. Ich stehe einer Partei vor, die schon schlechtere, aber auch schon bessere Tage gesehen hat. Ich regiere in einer Koalition, in der ich naturgemäß Kompromisse mit einem Regierungspartner finden muss. Den meisten anderen meiner europäischen Kollegen geht es ähnlich. Alle zusammen müssen wir in Europa dann Kompromisse finden. Das ist eine Spielanlage, die schnelle, entschiedene und mutige Handlungen nicht gerade begünstigt. Im Gegenteil: Man kann mit Recht behaupten, dass das eine Situation ist, in der es unglaublich lange braucht, auch nur ein wenig zu bewegen. Die Europäische Union hat aber genauso oft bewiesen, dass das kein hoffnungsloses Unterfangen ist.

  Wir können die Union nur auf einen neuen Pfad bringen, wenn wir Investitionen ankurbeln und die Konjunktur beleben. Dafür braucht es das Zusammenspiel der europäischen Institutionen und der nationalen Regierungen. Wir brauchen mehr Wachstum und wieder jene Art von Wachstum, das, wie die Gezeiten am Meer, alle Boote hebt und nicht nur ein paar wenige Yachten.

  Die sozialdemokratischen Regierungschefs und Parteiführer in Europa sind sich darin einig, dass der sogenannte Juncker-Fonds, der Investitionen über 315 Milliarden Euro generieren will, nicht ausreichen wird, um dieses Ziel zu erreichen. François Hollande hat vorgeschlagen, eine Verdoppelung dieser Investitionen vorzunehmen. Dieser Schritt, dem eine Evaluierung des bisherigen Investitionsprogrammes vorangehen soll, wird allerdings isoliert keine Trendumkehr bewirken. Selbst die Verdoppelung der Mittel wird wohl nicht genug sein. Das Programm ist auf drei Jahre veranschlagt. 315 Milliarden bedeuten also einen Investitionsschub von 0,75 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU pro Jahr, eine Verdoppelung 1,5 Prozent. Vergleicht man das mit dem Konjunkturprogramm der Vereinigten Staaten, deren Stimulusprogramm 2009 und 2010 rund 2,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts innerhalb von zwei Jahren mobilisierte, dann wäre ein solches Investitionsprogramm noch immer vergleichsweise bescheiden.

  Mit dem Juncker-Fonds hat Europa ein Modell gefunden, das es erlaubt, öffentliche Mittel durch privates Geld zu hebeln. Eine bessere Verzahnung von europäischer Geld- und Fiskalpolitik könnte weitere Spielräume schaffen. Was auch dringend notwendig ist, denn die zögerliche Fiskalpolitik hat den entschlossenen Interventionen der EZB viel von ihrem Potential genommen.

  Die wesentliche Ursache der nachhaltigen Krise in Europa ist das niedrige Investitionsniveau. Die Ökonomen Stephany Griffith-Jones and Giovanni Cozzi haben das gerade in einem jüngst erschienenen Buch (herausgegeben von Mariana Mazzucato und Michael Jacobs) eindrucksvoll vorgerechnet: "Der Niedergang der Investitionsquote in Relation zum Bruttoinlandsprodukt war gerade in der südlichen Eurozone dramatisch, sie sank von 21,7 Prozent im Jahr 2007 auf 14 Prozent im Jahr 2014. In Großbritannien war dieser Fall ähnlich scharf, von 15,9 Prozent 2007 auf 11 Prozent 2012, um dann bis 2014 wieder auf 13 Prozent zu steigen. Wenn man eine Investitionsquote von 19-21 Prozent als durchschnittlich und normal setzt, dann zeigt sich, dass auch in den Ländern, die einigermaßen gut durch die Krise kamen, die Investitionen eher mager waren. Sogar in Deutschland lag der Wert 2014 gerade einmal bei 17,5 Prozent."

  Der industrielle Sektor ist die Quelle von Innovation und die Basis stabiler ökonomischer Entwicklung in Europa. Wir sollten uns daher keine weitere Schwächung der europäischen Industrie leisten. Aber genau diese Investitionsschwäche kostet den industriellen Sektor viel an zukünftigem Potential. Die öffentlichen Investitionen in der EU und der Eurozone dürfen jedenfalls nicht weiter zurückgehen, im Gegenteil, es muss mehr in die Infrastruktur investiert werden - im Wettbewerb mit den anderen großen Wirtschaftsräumen Vereinigte Staaten und Asien braucht Europa starke Netze für Verkehr und Energie genauso wie starke digitale Netze.

  Vergleicht man die wirtschaftliche Performance Europas mit jener der Vereinigten Staaten, zeigt sich, dass wir seit Ausbruch der Krise nicht alles richtig gemacht haben. Während es in den Vereinigten Staaten rasch gelungen ist, die Arbeitslosigkeit wieder auf Vorkrisenniveau zu senken und die Investitionen merklich auszuweiten, herrschen in Europa eine Investitionsflaute und anhaltend hohe Arbeitslosigkeit insbesondere unter jungen Menschen.

  Die teils schwerwiegenden Auswirkungen von Austeritätsprogrammen auf Wirtschaftswachstum und Beschäftigung wurden systematisch unterschätzt. Viele Institutionen - vom Internationalen Währungsfonds bis zur OECD - haben dies mittlerweile anerkannt. Der Schaden ist jedoch bereits entstanden, denn viele Menschen in Europa haben nachhaltig unter dieser Politik gelitten, ebenso wie ihr Glaube an das Wohlstandsversprechen der europäischen Einigung.

  Letztlich liegt den Fehlentwicklungen und den oben genannten Fehleinschätzungen der Institutionen auch die Vorstellung zugrunde, dass ein Rückzug des Staates aus dem Wirtschaftsgeschehen ohnehin zu besseren Ergebnissen und mehr Wachstum führt.

  Aber so funktionieren moderne Volkswirtschaften nicht. Schon innerhalb von Volkswirtschaften sind "Märkte" Strukturen, die teilweise erst durch öffentlich vorangetriebene Investitionen entstehen - durch die Forschung, durch die Etablierung von Innovationsclustern, durch kluge Wirtschaftspolitik, die dafür sorgt, dass Kapital in zukunftsträchtige Sektoren fließt. Das gilt schon in normalen Zeiten, und das gilt erst recht in Krisenphasen, in denen zu wenig investiert wird.

  Wir brauchen einen Plan für Europa, der durch Investitionen und Innovationen Wachstum und mehr Wohlstand generiert. Profitieren sollen diejenigen, die Zuwächse am dringendsten brauchen. Die Lohnentwicklung muss wieder nach oben gehen, die Arbeitslosigkeit muss sinken und es müssen mehr gute Jobs entstehen, von denen die Menschen leben können. Der große europäische Binnenmarkt bietet ausreichend Chancen und Absatzmöglichkeiten. Wir kommen nur dann vorwärts, wenn wir miteinander den Wohlstand heben.

  Wir haben in den vergangenen 25 Jahren integrierte Weltmärkte und in Europa einen Binnenmarkt geschaffen, nicht nur für Güter und Dienstleistungen, sondern auch für Kapital- und Arbeitsmärkte.

  Gleichzeitig hat sich gezeigt, dass diese Globalisierungsgewinne sehr ungleich verteilt sind. Dies hat nicht nur - wie bereits oben skizziert - gesellschaftspolitische, sondern auch ökonomische Konsequenzen. Denn erstens führt Ungleichheit, die die Mittelschicht erodieren lässt, weder in Europa noch in den Vereinigten Staaten noch in Lateinamerika noch in Asien zu Wachstum, sondern ist eher ein Wachstumshemmnis. Selbst Experten des Internationalen Währungsfonds bestätigen mittlerweile, dass Ungleichheit Wachstum bremsen kann. Und zweitens wird es selbst dann, wenn - durchschnittlich - "alle" profitieren, immer Verlierer und Gewinner geben.

  Es geht nicht darum, die Globalisierung zurückzudrängen oder Freihandel zu bekämpfen - wer eine kosmopolitische Sicht hat, weltoffen ist und für wen internationale Solidarität ein Wert ist, der wird nicht dafür plädieren. Aber man kann sich sehr wohl die Frage stellen, ob Freiheit nicht auf Kosten der Fairness geht. Der Ökonom Dani Rodrik hat schon vor beinahe zwanzig Jahren darauf hingewiesen, dass die globale Integration Verlierer und Gewinner kennen würde. Jeder wisse, formulierte er, "dass Arbeiter, wenn man sie leichter durch billigere und andere ersetzen kann, Instabilität in ihren Einkommen ernten und dass ihre Verhandlungsmacht erodiert".

  Diejenigen, die dann ökonomisch unter Druck geraten, bekommen selten etwas von den Zuwächsen der Gewinner ab - das ist die Erfahrung der vergangenen zwanzig Jahre. Und aus dieser Erfahrung muss man kluge Konsequenzen ziehen: Wenn wir die globale Integration - und auch die europäische ökonomische Integration - erhalten wollen, dann müssen wir die Menschen vor Verlusten schützen und für einen sinnvollen, gerechten Ausgleich sorgen. Denn ansonsten werden diejenigen revoltieren, die sich als Verlierer der Globalisierung sehen. Tatsächlich erleben wir diese Revolte jetzt schon. Das Brexit-Votum ist nur eines der Phänomene.

  Wenn man das klar sieht, dann ist die Skepsis gegenüber neuen Freihandelsabkommen wie TTIP durchaus berechtigt. Denn auch bei den Verhandlungen über diese Abkommen wurde nicht die Frage gestellt, wer die potentiellen Gewinner und Verlierer sein könnten, wer die angenommenen Wohlstandsgewinne lukriert und wie man die vermutlichen Verlierer daraus entschädigt. Das selten beobachtete, aber umso öfter beschworene Trickle-down-Phänomen soll auch hier seine Wunder wirken. In Österreich, wo ein großer Teil der Arbeitsplätze vom Export abhängt, wo das Freihandelscredo seit Jahrzehnten verankert war, ist die Ablehnung gegenüber TTIP und in etwas geringerem Maß auch Ceta überwältigend. Das hat viele in den Abkommen angelegte Gründe, wie die privilegierte Stellung von Investoren, den unzureichenden Schutz der Daseinsvorsorge oder die schwache Ausgestaltung von Standards im Umwelt- und Sozialbereich. Auch die schleichende Überantwortung von Regulierungsmacht von der Politik an große Konzerne beunruhigt viele. Zentraler Kritikpunkt ist aber die Abkehr von der geübten europäischen Praxis, Verlierer von Liberalisierungsschritten über die staatlichen Umverteilungsmechanismen für die Übernahme der Risiken zu entschädigen.

  Nicht nur Freihandel und Globalisierung werden durch die Verweigerung beziehungsweise Unfähigkeit diskreditiert, Chancen und Risiken gerecht zu verteilen. Auch die EU wird von ihren Bürgern primär als Promotor einer unfairen Modernisierung gesehen, die ihrem Auftrag, vor den Verwerfungen einer globalisierten Wirtschaft zu schützen, nicht nachkommt. Das verlorene Vertrauen in die Fähigkeit, vor allem aber in den politischen Willen der EU, diese Schutzfunktion zu erfüllen, müssen wir rasch zurückgewinnen.

  Das Vertrauen in die Lösungskompetenz der EU hat auch in der Flüchtlingsfrage massiv gelitten. Wenn wir uns heute in weiten Teilen Europas mit der Wiedererrichtung von bereits lange eingemotteten Grenzposten beschäftigen, wenn wir uns zunehmend einigeln und in einer zentralen europäischen Frage nur mehr nationale Antworten geben können, dann stellen die Bürger richtigerweise die Frage, warum das jedem Gemeinwesen zugrunde liegende Sicherheitsversprechen von der EU nicht eingehalten wird.

  Wo ist der Schutz der Außengrenzen der Union, wo das gemeinsame Asylsystem? Warum gibt es auch in dieser Frage keine faire Verteilung der Lasten? Warum läuft die einzige Möglichkeit, in der Wertegemeinschaft EU um Asyl anzusuchen, über internationale Schlepperbanden? Was tun wir, um die Fluchtursachen zu bekämpfen? Wo ist der europäische Friedensplan für Syrien, wo der Marshall-Plan für Afrika? Zu allen diesen Fragen müssen wir rasch pragmatische, spürbare und wirkungsvolle Antworten finden. Der Plan von Außenkommissarin Federica Mogherini enthält viele wesentliche Grundlagen, um rasch zu entscheiden. Auch in der Asylfrage haben wir gute Vorschläge auf dem Tisch, wir müssten nur den politischen Mut aufbringen, sie auch umzusetzen.

  Das wird auch von nationalen Regierungen erwartet. Das Versteckspiel hinter Sachzwängen, liebgewordenen politischen Traditionen, hinter "Brüssel", hinter selbstgewählten roten Linien, deren Sinn sich nur aus der engsten aller nationalen Perspektiven erschließt, können wir uns nicht mehr lange leisten. Denn allzu oft steckt hinter diesen vorgeblichen Hindernissen nichts anderes als die Furcht vor dem Zorn des Wählers, der nicht mit der Wahrheit konfrontiert werden wolle. Meine recht gesicherte Vermutung ist jedoch, dass die Europäer diese ritualisierten Schonungen ihrer Komfortzone längst durchschaut haben und sich lediglich darüber ärgern, dass die Politik immer wieder versucht, eine Realität vorzuspiegeln, die sich von der erlebbaren Wirklichkeit deutlich unterscheidet.

  Ein Beispiel dafür ist der Umgang der EU mit der Türkei. Es besteht kein Zweifel, dass die Türkei ein wichtiger und gewichtiger Partner der EU ist, nicht nur wegen des Flüchtlingsabkommens. Ebenso wenig darf es Zweifel daran geben, dass der Putschversuch in der Türkei von uns allen verurteilt wird. Gleichzeitig besteht nicht nur in Österreich größte Skepsis gegenüber einem möglichen EU-Beitritt des Landes. Und es gibt nur sehr wenige Experten, die die politische, demokratische und menschenrechtliche Entwicklung der Türkei in den vergangenen Jahren als Annäherung an die EU bewerten würden. Trotzdem versucht man mit viel Energie, die diplomatische Fiktion von Beitrittsverhandlungen aufrechtzuerhalten, von denen alle Beteiligten wissen, dass sie zu nichts führen. Mein Vorschlag, statt dieses leeren Rituals in ernsthafte Verhandlungen mit der Türkei über einen Ausbau der bestehenden Zollunion, über eine engere Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich und über eine Verstetigung des Flüchtlingsübereinkommens einzutreten, stieß auf viel Unterstützung hinter vorgehaltener Hand. Mehr Vertrauen in die europäische Politik ist nur erringbar, wenn wir uns angewöhnen, miteinander so offen umzugehen, wie es einem Zeitalter entspricht, in dem jeder alles auf Knopfdruck wissen kann.

  Ich bin der Regierungschef eines kleinen Landes, und da ist man gegen Machtillusionen einigermaßen immunisiert. Aber zugleich bin ich der Regierungschef eines kleinen Landes, das es in den besten Zeiten seiner Geschichte geschafft hat, als Drehscheibe für Vorschläge und Ideen zu agieren.

  Wir brauchen neue Allianzen in Europa für eine progressive Wirtschaftspolitik, die unseren Kontinent wieder vorwärtsbringt. Aber solche Allianzen werden wir nur hinbekommen, wenn wir uns mit Elan dafür engagieren. Die Europäische Union leidet sicher nicht an zu viel Entschlossenheit, sich den Problemen zu stellen, sondern eher an zu wenig. Es ist mit Sicherheit falsch, das einzelnen Personen vorzuwerfen, schon gar nicht pauschal der EU-Kommission. Das folgt beinahe zwangsläufig aus der Konstruktion, die wir geschaffen haben: Strukturen, in denen nur etwas weitergeht, wenn Dutzende Player und Akteure mühsam einen Kompromiss finden, sind nicht gerade Maschinen zur Generierung von Verwegenheit. Wir dürfen aber nicht den Fehler machen, uns davon lähmen zu lassen.

  Es sind die jungen Leute, die wir für einen Neustart in Europa begeistern müssen - und können. Sie sind es, die im gemeinsamen Europa aufgewachsen sind und die dessen Möglichkeiten sehen, auch wenn ihnen in den vergangenen Jahrzehnten viele Chancen vorenthalten wurden. Es sind ja die Jungen, die keinen Start ins Berufsleben finden (wie in Griechenland und Spanien) oder die oft in prekären Jobs für wenig Geld und null Sicherheit ihre ersten Arbeitsjahre verbringen (wie überall anders), die einen hohen Preis für die Stagnation zahlen. Und dennoch sind sie diejenigen, die die europäische Idee hochhalten. Sie sind die soziale Basis für ein progressives Europa, das Hoffnung hat und nach vorne schaut. Sie müssen wir in Bewegung bringen.

;