Gesundheit

Frau erkennt nach Corona kein Gesicht mehr

Ein paar Monate nach ihrer Infektion kann Annie ihren Vater nicht mehr von ihrem Onkel unterscheiden. Beide Gesichter sehen für sie gleich aus.

Sabine Primes
Für Prosopagnosie-Betroffene hat ein Gesicht keine individuellen Merkmale, anhand derer sie Personen, die sie kennen, wiedererkennen können. Alle Gesichter sehen für sie gleich aus.
Für Prosopagnosie-Betroffene hat ein Gesicht keine individuellen Merkmale, anhand derer sie Personen, die sie kennen, wiedererkennen können. Alle Gesichter sehen für sie gleich aus.
iStockphoto.com; Bearbeitung: heute.at

Es ist zwar allgemein bekannt, dass Corona eine Reihe neurologischer Probleme verursachen kann, darunter den Verlust von Geruchs- und Geschmackssinn sowie Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses, der Sprache und des Sprechens, die als "Brain Fog" bezeichnet werden. Doch darüber, dass Prosopagnosie ("Gesichtsblindheit") eine Folge der Infektion sein kann, berichtet diese Fallstudie erstmals, die in "Cortex" veröffentlicht wurde.

Alle sehen gleich aus

Als Annie einige Monate nach ihrer Covid-Erkrankung im März 2020 zum ersten Mal wieder mit ihrer Familie zusammentraf, war klar, dass die Krankheit noch nicht an ihr vorüber war. Sie konnte ihren Vater nicht mehr von ihrem Onkel unterscheiden. "Die Stimme meines Vaters kam aus dem Gesicht eines Fremden", erklärte Annie den Forschern, die ihren Fall untersuchten. 

Früher musste die 28-jährige Teilzeitkünstlerin während der Arbeit an einem Porträt vielleicht alle 15 bis 30 Minuten einen Blick auf ihr Motiv werfen. Jetzt muss Annie immer wieder darauf zurückgreifen. Zudem muss sich die 28-Jährige auf Stimmen verlassen, um die Freunde und Familienmitglieder zu erkennen, die direkt vor ihr stehen. Außerdem hat sie mit Navigationsproblemen zu kämpfen: Es fällt ihr schwer, sich in ihrem Stammsupermarkt zurechtzufinden, sie hat Probleme, ihr geparktes Auto auf einem Parkplatz zu wieder zu finden und manchmal merkt sie, dass sie auf einst vertrauten Strecken in die falsche Richtung fährt.

Prosopagnosie ("Gesichtsblindheit") bezeichnet somit die Unfähigkeit, Personen alleine anhand des Gesichts zu erkennen. Personen mit Prosopagnosie können ein Gesicht sehen, sind also nicht blind, allerdings sehen für sie alle Gesichter gleich aus. Ein Gesicht enthält für sie keine individuellen Merkmale, anhand derer sie Personen, die sie kennen, wiedererkennen könnten. 
In den meisten Fällen besteht eine genetische Ursache der Wahrnehmungsstörung. Eine familiäre Häufung ist bekannt, zugrundeliegende genetische Veränderungen sind bislang jedoch noch nicht identifiziert. Demgegenüber steht die erworbene Prosopagnosie, die im Rahmen einer Gehirnentzündung, eines Schädel-Hirn-Traumas, einer hochgradigen Demenz oder bei Schlaganfällen auftreten kann.
Prosopagnosie ist weder heilbar noch behandelbar. Betroffene gleichen ihr Defizit aus, indem sie zur Person zugehörige Merkmale (z.B. Stimme, Statur, Frisur, Kleidung etc.) abspeichern.

Prosopagnosie

Die Neuropsychologen des US-Dartmouth College, Marie-Luise Kieseler und Brad Duchaine, führten mit Annie eine Reihe von Tests durch und bestätigten, dass ihre Schwierigkeiten beim Erkennen von Gesichtern auf spezifische Gedächtnisstörungen zurückzuführen sind und nicht auf allgemeine Probleme.

"Die Kombination von Prosopagnosie und Navigationsdefiziten, die Annie hatte, hat unsere Aufmerksamkeit erregt, weil diese beiden Defizite oft Hand in Hand gehen, wenn jemand entweder eine Hirnschädigung oder Entwicklungsdefizite hat", so der Hauptautor Brad Duchaine, Professor für Psychologie und Gehirnwissenschaften. "Dieses gleichzeitige Auftreten ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass beide Fähigkeiten von benachbarten Hirnregionen im Schläfenlappen abhängen."

Im Verlauf ihrer Infektion hatte Annie ihren Geruchs- und Geschmackssinn verloren, hatte Probleme mit der Atmung und hatte einige Tage lang hohes Fieber. Seit ihrem Rückfall wurden die Probleme mit der Gesichtserkennung und der Navigation von anderen langwierigen COVID-Symptomen wie Müdigkeit, Konzentrationsproblemen und Hirnnebel begleitet. Später entwickelte sie auch Gleichgewichtsprobleme und Migräne.

Long Covid-Symptom?

Im Rahmen der neuen Studie wurden 54 weitere Patienten befragt, die mit Long Covid zu kämpfen haben, und die meisten hatten seit ihrer Infektion Schwierigkeiten, vertraute Gesichter zu erkennen. "Es handelte sich nicht nur um eine kleine Konzentration von wirklich beeinträchtigten Fällen, sondern eine breite Mehrheit der Personen in der Gruppe mit long COVID berichtete über spürbare Schwierigkeiten bei Dingen, die sie vor der Erkrankung an COVID-19 ohne Probleme tun konnten." "Eine der Herausforderungen, von denen viele Befragte berichteten, war die Schwierigkeit, Familie und Freunde zu erkennen, etwas, das wir oft von Prosopagnosikern hören", sagt Duchaine

Aufgrund von Problemen mit der Versicherung hat Annie keine MRT-Untersuchung durchführen lassen. "Daher kann ein Schlaganfall als Ursache ihrer Symptome nicht ausgeschlossen werden, insbesondere angesichts der Hinweise auf ein erhöhtes Schlaganfallrisiko bei COVID-19", warnte das Team in seiner Fallstudie.

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