Bei Reelshort packen die Regisseure mehr Drama in 30 Sekunden als Netflix in ganze Staffeln. In der Serie "Schwanger vom Vater meines Exs" setzt bereits der Titel den Ton. Die angehende Ärztin Lucia betritt darin das Krankenhaus, fragt einen Kollegen, wo ihr Freund Justin sei und erwischt ihn beim Fremdgehen in einer Besenkammer.
"Nein, nein, nein! Du kannst doch nicht am Tag vor dem Start unserer Assistenzzeit mit meiner besten Freundin schlafen!?", ruft Lucia. Statt sich zu entschuldigen, entgegnet Justin trocken, dass der Druck der Ausbildung ohnehin zu groß für sie sei. Dann erscheint ein interaktives Element: Die Zuschauerinnen und Zuschauer können wählen, wie Lucia reagieren soll. Zur Auswahl stehen: "Schlag Justin" oder "Sperr sie ein". Nach dem Entscheid folgt gleich die nächste Mini-Episode. Es ist "Grey's Anatomy" auf Amphetamine, die Handlung eingedampft auf das absolute Minimum – und ein Riesenerfolg, besonders bei jungen Frauen.
Reelshort sieht aus, als hätten Netflix und Tiktok ein Baby. Die Inhalte sind alle für Handys im Hochformat gefilmt. In den 100 meist heruntergeladenen Apps der USA tummeln sich gleich zwölf Streamingplattformen, die auf das gleiche Konzept setzen. Die amerikanisch-chinesische App Reelshort ist mit über 150 Millionen Nutzern Marktführer, laut der "New York Times". Dahinter folgen Anbieter wie "DramaBox", "NetShort" oder "GoodShort".
Die ersten paar Episoden sind häufig gratis, doch sobald das Publikum (zu 75 Prozent Frauen) am Haken ist, muss es entweder bezahlen oder zahlreiche Werbeclips ertragen. Die Zielgruppe ist in etwa dieselbe, die sich durch Buchempfehlungen bei Tiktok für Dark-Romance-Geschichten begeistern ließ. Häufig hilft KI dabei, die Handlungen zu entwerfen. Die Plots strotzen vor Tabus und Klischees: Sie hat eine heimliche Affäre mit einem verheirateten Milliardär, sie verfällt einem toxischen Werwolf mit dem Charakter eines Frauenhassers à la Andrew Tate (38) oder sie krallt sich den Mafiaboss, um ihn zu zähmen.
"Ich kann mir vorstellen, dass solche Formate jüngeren Generationen als Sprungbrett dienen, um bei ihnen das Interesse und die Freude am Geschichtenerzählen zu wecken", sagt Christian Jungen, Direktor des Zürich Film Festivals auf Anfrage. In der Tendenz gehen junge Menschen immer seltener ins Kino, darum müssten Filmstudios lernen, über verschiedene Plattformen hinweg Gemeinschaften aufzubauen.
Vor dem Buch "Haunting Adeline" warnt eine lange Liste vor Triggern wie sexuelle Gewalt, Mord, Entführung, Menschenhandel, Fesslung und Erniedrigung. Trotzdem hat der Roman allein bei Amazon eine Bewertung von viereinhalb von fünf Sternen, die auf rund 300.000 Rezensionen basiert. Doch dieses Buch ist nicht das Einzige, das in letzter Zeit immer mehr Leser für sich gewinnt. Denn wirft man ein Blick auf Booktok – eine Gemeinschaft innerhalb der Plattform Tiktok, die sich auf Bücher konzentriert – merkt man schnell, dass die Kategorie "Dark Romance" immer beliebter wird. Jetzt wird sie auch in den TikTok-Serien aufgegriffen.