"Auf jeder Parkbank stand plötzlich 'Nur für Arier'"

Heute Redaktion
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Im Alter von acht Jahren beginnt für Lucia Heilman der Kampf ums Überleben. Sie muss die Schule verlassen, die Wohnung wird arisiert, der Opa ermordet. Ein Freund rettet Lucia und ihre Mutter. Ein Gespräch mit Isabella Martens.

15. März 1938: Adolf Hitler verkündet am Wiener Heldenplatz den sogenannten „Anschluss" – 250.000 Österreicher jubeln dem „Führer" zu. Am Rande des Geschehens: das jüdische Mäderl Lucia Heilman, damals acht Jahre alt. „Ich hörte wie die Massen `Heil! Heil! Heil!' brüllten. Von diesem Moment an war ich ein Außenseiter", erinnert sich Heilman.

Auch Parks wurden plötzlich "judenrein"

Bereits in den ersten Tagen nach dem Einmarsch der Deutschen beginnen Hitlers Vollstrecker, darunter viele Österreicher, mit der Verfolgung von politisch Andersdenkenden – und der jüdischen Bevölkerung. Von den mehr als 200.000 Juden, die in Österreich bis 1938 leben, gelingt rund 120.000 die Flucht ins Ausland, 66.000 werden bis 1945 ermordet. Jüdische Schulkinder wurden gleich zu Beginn der NS-Zeit ausgegrenzt. „Der Direktor kam in die Klasse. Ich und alle anderen jüdischen Kinder mussten Hefte und Bleistifte zuammenpacken und gehen. Das war für mich unfassbar", erinnert sich Heilman. Auch für Parks wurden „judenrein": „Auf allen Bänken stand plötzlich ‚Nur für Arier'. Als der gelbe Stern (19.9.1941, Anm. ) eingeführt wurde, sind die Buben hinter mir hergelaufen, haben mich bespuckt und getreten. Die Erwachsenen schauten weg".

"Wir konnten uns ausrechnen, wieviel Zeit noch bleibt, bis wir deportiert werden"

Auf die Ausgrenzung folgte für sechs Millionen Juden in ganz Europa der Tod. Eines dieser Opfer: Heilmans Großvater. „Zwei Männer in SS-Uniform, schwarz von Kopf bis Fuß, sind hereingekommen, sagten, dass er mitkommen müsse. Er zog seinen Wintermantel an und ging mit den Kolossen weg". Heilman sieht ihren Großvater nie wieder.

Sie selbst muss mit ihrer Mutter Regina die Familienwohnung verlassen, wird in eine Sammelwohnung in der Wiener Berggasse gepfercht: „Wir konnten uns ausrechnen, wieviel Zeit noch bleibt, bis wir deportiert werden", so Heilman.

Freund der Familie versteckt Lucia und ihre Mutter

Dann das Wunder: Kurz vor dem Abtransport versteckt ein Freund der Familie, Reinhard Duschka, die beiden in seiner Werkstatt in der Mollardgasse 85a. „Er baute uns eine Kiste und legte Matratzen hinein. Wenn jemand kam, haben wir uns darin versteckt", erinnert sich Heilman an die vier Jahre in der Werkstatt. Als die Werkstatt 1944 zerbombt wird, versteckt Duschka sie in einen Keller: „Von November 1944 bis April 1945 saßen wir in diesem Keller. Es war die allerschlimmste Zeit. Es war kalt, finster, modrig und wir durften uns fast nicht bewegen, weil man uns sonst entdeckt hätte. In dieser Zeit habe ich aufgehört zu sprechen".

Heilman und ihre Mutter überlebten. Von Yad Vashem (Holocaust-Gedenkstätte in Israel) erhielt Duschka 1990 die Auszeichnung „Gerechter unter den Völkern". Nach dem Krieg hat er seine Werkstätte wiederaufgebaut, in der er bis zu seiner Pensionierung arbeitete. Duschka starb im Mai 1993

Das Interview ist Teil einer Zeitzeugen-Serie. Alle Zeitzeugen-Gespräche finden Sie auf www.heute.at/zeitzeugen

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