"Nazis warfen meinen Vater die 'Todesstiege' runter"

Heute Redaktion
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Mit 13 Jahren musste Martin Wachtel mitansehen, wie sein Vater ermordet wurde. Sein Lebenswille war aber stets stärker als die Qualen. Heute hat Wachtel zwei Kinder, vier Enkel und fünf Urenkel. Ein Gespräch mit Isabella Martens.

Boryslaw, September 1939. In der damals polnischen Stadt marschieren SS-Männer auf. Sie schleppen 100 polnische Juden

auf einen Hof, trennen ihnen die Köpfe ab. Das Blutbad muss Martin Wachtel (damals neun Jahre alt) vom Fenster aus mitansehen."Die Deutschen standen neben den Toten, haben gelacht und fotografiert", erzählt Wachtel mit gedämpfter Stimme. Was Wachtel miterlebt, ist der Beginn der Schoah: In ganz Europa werden Juden verfolgt, deportiert, ermordet.

"Die Nazis haben uns in einen Zug gepfercht"

Wachtel wird mit seinen Eltern und dem Bruder nach Mauthausen verschleppt."Die Nazis haben uns in einen Zug gepfercht. Kurz hielten wir an, flehten um Wasser." Doch die Wachen halfen nicht. "Ich saß im finsteren Wagon und wusste nicht, wer neben mir noch lebte und wer schon tot war." Als die Türen aufgingen, fielen Dutzende Tote heraus, erinnert sich Wachtel. "Die Hälfte der Leute hat den Transport nicht überlebt."

In Mauthausen musste Wachtel die gestreifte Häftlingskleidung

anziehen. Dabei hatte er nichts verbrochen. Die Zustände in dem Lager, in dem die Nationalsozialisten Menschen, die sie für minderwertig hielten, konzentrierten, waren prekäre. Martin Wachtel darf sich monatelang nicht waschen. "Wir haben gestunken, überall waren Läuse."Doch am schlimmsten war der Hunger. "Die tägliche Ration war ein Häferl Kaffee und ein kleines Stück Brot. Wir haben die ganze Zeit nur von Essen geträumt." Wachtel wird gemeinsam mit dem Vater zur Arbeit im Steinbruch eingeteilt. Häftlinge mussten Granitblöcke die Todesstiege (31 Meter hoch) hinaufschleppen. "186 Stufen!", weiß Wachtel genau. Die, die einen kleinen Stein nahmen oder unter der Last zusammenbrachen, wurden getötet: "Auch meinen Vater warfen sie in die Tiefe." Die SS nannte das zynisch "Fallschirmspringer". Martin Wachtel, damals 13 Jahre alt, überlebte, indem er Unmenschliches auf sich nahm: "Ich hab jeden Tag gebettelt, dass sie mir den größten Stein geben."

Trotz des Leids hegt Wachtel keinen Groll

Am 5. Mai 1945 wird Wachtel aus dem KZ befreit. Anfangs begriff er gar nicht, was passiert."Erst als die Deutschen die Uniformen auszogen und wegliefen, ahnte ich, der Krieg ist vorbei." 1958 zieht Wachtel mit seiner Frau nach Wien. Heute sind sein ganzer Stolz die Kinder, Enkel und Urenkel. Trotz all des Leids hegt Martin Wachtel keinen Groll: "Ich bin froh, dass ich überlebt habe."

Das Interview ist Teil einer Zeitzeugen-Serie. Alle Zeitzeugen-Gespräche finden Sie auf www.heute.at/zeitzeugen

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