Ukraine

"Massenvernichtungswaffen nicht mehr ausgeschlossen"

Russlands Bombardierung einer Kinder- und Geburtsklinik in der Ukraine schockierte die Welt. Nun droht ein noch schlimmeres Massaker als bisher.
20 Minuten
11.03.2022, 21:44

In der ukrainischen Hafenstadt Mariupol sind am 9. März eine Entbindungsklinik und ein Kinderspital bombardiert worden. Die Angriffe führten zu verletzten und getöteten Zivilisten. Nicht zum ersten Mal haben russische Truppen im Krieg in der Ukraine zivile Ziele angegriffen.

Der Ukraine-Krieg trieb bislang mehr als zwei Millionen Personen in die Flucht. Zudem fordert er viele Menschenleben; alleine 516 Zivilisten sind im Krieg laut UN-Menschenrechtskommissarin umgekommen seit der russischen Invasion am 24. Februar. Weiter gebe es 908 Verletzte. Die tatsächlichen Zahlen seien vermutlich höher.

"Rücksichtslose Kriegsführung" verursacht zivile Opfer

Doch wieso bombardiert Russland immer wieder zivile Ziele? Laut Mauro Mantovani, Dozent für strategische Studien der Militärakademie (MILAK) der ETH Zürich, steckt eine strategische Logik dahinter. "Die Zivilbevölkerung soll Druck auf die Regierung ausüben, den Widerstand gegen die russische Armee einzustellen und am Verhandlungstisch nachzugeben."

Anders sieht das Roland Popp, Forschungsmitarbeiter an der MILAK an der ETH Zürich. Er sagt: "Das ist kein gewolltes Töten von Zivilisten, sondern rücksichtslose Kriegsführung – die ist alles andere als eine russische Eigenart." Zivile Opfer ließen sich im Krieg nicht vermeiden. Dass Einrichtungen wie Spitäler dabei getroffen werden, findet Popp wenig überraschend, denn "wenn ein Kampf in urbaner Umgebung stattfindet, wird häufig fast alles zerstört".

Laut Popp hat die russische Seite ein Interesse, die Zivilbevölkerung zur Flucht zu bewegen oder sie evakuieren zu lassen. Denn dann könnten die russischen Truppen "mit großer Feuerkraft den Gegner bekämpfen", so Popp.

Bereits in früheren Kriegen hat Russland die Zivilbevölkerung attackiert

"Es ist nicht das erste Mal, dass Putin sein Militär gegen eine Zivilbevölkerung einsetzt", sagt Benjamin Schenk, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Basel. "Bereits im zweiten tschetschenischen Krieg ab 1999 und im Krieg in Syrien 2015 wurden gnadenlos Zivilisten attackiert und systematisch Städte dem Erdboden gleich gemacht. Dies führte jeweils zu zigtausenden Toten und in Tschetschenien zur Einsetzung einer willkürlich agierenden, diktatorischen Führung", so der Osteuropa-Experte.

Auch in der Ukraine sei dieses grausame Vorgehen deutlich sichtbar. "Putin hat bereits in seiner Kriegserklärung an die Ukraine unmissverständlich klargemacht, dass er vor absolut keinem Mittel zurückschrecken werde, um seine Ziele durchzusetzen", sagt Schenk. "Ob diese schonungslosen Angriffe gegen ukrainische Zivilisten von Anfang an geplant waren, werden wir allerdings nie erfahren."

"Einsatz von Massenvernichtungswaffen nicht ausgeschlossen"

"Nach Aussagen von Beobachtern hat Putin sich den aktuellen Feldzug wesentlich einfacher vorgestellt", sagt Schenk. Vor diesem Hintergrund sei die aktuelle Warnung der USA vor dem russischen Einsatz biologischer und chemischer Waffen besonders besorgniserregend. "Auch in Syrien haben Assad und seine russischen Verbündeten diese Massenvernichtungswaffen gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt. Dies lässt sich jetzt auch in der Ukraine leider nicht mehr ausschließen", sagt Schenk.

Mit der gezielten Bombardierung von Zivilisten verstößt Putin gegen die Genfer Konvention. Ob er dafür zur Rechenschaft gezogen werden wird, sei schwierig zu sagen: "Russland hat bereits mit dem Überfall auf die Ukraine gezeigt, dass er keinerlei Anlass darin sieht, sich an völkerrechtliche Regeln zu halten", sagt Schenk.

"Dieses Mal könnte Putin bestraft werden"

Lorenz Langer, Experte für Völkerrecht an der Universität Zürich, hält es nicht für völlig ausgeschlossen, dass es einmal zu einem Strafverfahren gegen Putin kommen könnte. "Am internationalen Strafgerichtshof in Den Haag haben 40 Staaten ein formelles Gesuch für eine entsprechende Strafuntersuchung eingereicht, darunter auch die Schweiz", sagt Langer. Zudem würden immer mehr frühere Kriegsverbrecher zur Rechenschaft gezogen werden. "Zahlreiche hochrangige Offiziere und Politiker aus dem Jugoslawienkrieg wurden schließlich doch noch für ihre Gräueltaten verurteilt", sagt der Völkerrechtsexperte. "Dies könnte auch mit Putin geschehen."

Voraussetzung wäre aber sicher eine Kooperation Russlands mit dem Strafgerichtshof und damit ein Machtwechsel in Moskau. "Selbst bei einer Verurteilung wäre Putin sonst in Russland in Sicherheit und könnte nicht zur Rechenschaft gezogen werden", sagt Langer. Außerdem zögen sich solche Verfahren oft jahrelang hin. "Als Alternative können auch Gerichte in anderen Staaten gegen einen Kriegsverbrecher vorgehen, aber auch das wäre nur denkbar nach einem Umsturz."

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