Niederösterreich

Tablette ließ Bub aus Fenster springen – Schädelbruch

Scheinbar harmlose Medikamente können dramatische Folgen haben – dies kann Landarzt Günther Loewit aus eigener Erfahrung bezeugen.

Clemens Pilz
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Dr. Günther Loewit warnt in "Achtung, Medizin kann Ihrer Gesundheit schaden" vor den Nebenwirkungen von Medikamenten.
Dr. Günther Loewit warnt in "Achtung, Medizin kann Ihrer Gesundheit schaden" vor den Nebenwirkungen von Medikamenten.
iStock, zVg (Montage)

Er saß gerade am Schreibtisch und lernte Geschichte, da hob Manfred H. (Name geändert) den Blick und sah das Fenster. Plötzlich spürte er das unwiderstehliche Bedürfnis, dem hereinströmenden Licht zu folgen. Er stand auf, öffnete das Fenster und stieg auf das Fensterbrett. Der 16-Jährige stieß sich kräftig ab, fiel – und landete hart im Vorgarten. Den Sturz überlebte der junge Niederösterreicher nur knapp, er erlitt einen komplizierten Unterschenkelbruch und einen Schädelbasisbruch, musste ins künstliche Koma versetzt werden.

Mediziner waren zunächst völlig ratlos, aus welchem Grund sich der nicht selbstmordgefährdete, mit dem Leben grundsätzlich zufriedene Bursch unvermittelt in die Tiefe stürzte. Der spätere Hausarzt des Patienten, Günther Loewit, klärt in seinem neuen Buch "Achtung, Medizin kann Ihrer Gesundheit schaden" jetzt die bizarre Ursache auf: Im Gespräch mit einem Psychologen wurde nämlich festgestellt, dass der Teenager kurz vor dem Unfall von einem HNO-Spezialisten ein Kortisonpräparat gegen seine chronisch verstopfte Nase verschrieben bekam. Unter den möglichen Nebenwirkungen: Psychose, Labilität, Angst, Manie, Lebensmüdigkeit.

Präparat war gar nicht notwendig

Zwar seien tödliche Nebenwirkungen sehr, sehr selten. "Aber Murphys Gesetz ist unerbittlich. Wenn etwas schiefgehen kann, geht es auch irgendwann schief." Zwei Tage nach dem Beginn der Therapie glaubte der Bub, fliegen zu können, und sprang aus dem Fenster – für Loewit (63) nur eines von vielen Beispielen, was beim Verordnen von Medikamenten in unserem Gesundheitssystem schief läuft. Denn später stellte sich heraus, dass der Patient unter starkem Heuschnupfen litt, der durch eine Desensibilisierungstherapie gut behandelt werden konnte. Das Kortisonpräparat wäre also gar nicht notwendig gewesen.

Es ist nur eine von vielen Geschichten, die Loewit in "Achtung, Medizin kann Ihrer Gesundheit schaden" (anonymisiert und zum Schutz der Privatsphäre teils in unwesentlichen Details verändert) aus seiner Praxis in Marchegg (NÖ) berichtet. Der Mediziner kam während seiner 40-jährigen Praxistätigkeit zu dem Schluss, dass man viele Probleme ohne Medikamente – etwa durch Verhaltensänderungen, mehr Sport, eine Ernährungsumstellung etc. – lösen könnte. Dazu fehle den Ärzten aber in der Regel die Zeit, näher auf ihre Patienten einzugehen. Die Folge: "Die Verschreibung von Tabletten steigt von Jahr zu Jahr sowohl in der Gesamtmenge, als auch in der Dosierung. Ich habe den Verdacht, dass wir in der Fortbildung nur mehr für jeden Befund eine Tablette gezeigt bekommen und Ärzte oft Befunde behandeln, statt Patienten", so Loewit zu "Heute".

Medikamentöse Therapie wäre oft vermeidbar

Sein Buch ist ein Plädoyer für ein Umdenken in der Beziehung zwischen Medizinern und Patienten, das derzeitige System sei teuer sowie zum Teil ineffektiv und gefährlich. "Wenn man einem Patienten 500 Euro pro Kilo zahlen würde, das er abnimmt, könnte man viele Probleme lösen und es wäre wahrscheinlich noch immer günstiger als die Tabletten." Mehr Zeit in der Behandlung ermögliche es auch, besser auf Fehler seitens der Patienten einzugehen. "30 Prozent der verordneten Rezepte kommen ja gar nicht in die Apotheke. Viele werden zu früh abgesetzt, sobald es den Leuten besser geht. Hier gibt es Missverständnisse, die man aufklären müsste."

"Achtung, Medizin kann Ihrer Gesundheit schaden" ist jetzt erhältlich.
"Achtung, Medizin kann Ihrer Gesundheit schaden" ist jetzt erhältlich.
Verlag

Landarzt ist aussterbende Spezies

Loewit selbst ist seit elf Jahren Wahlarzt. "Ich konnte einfach nicht mehr 200 Leute am Tag abfertigen", erklärt er seine Entscheidung. Den Landarzt wundert es nicht, dass seine Zunft erhebliche Nachwuchsprobleme hat, denn der Beruf sei "ein enormer finanzieller Stress. Junge Ärzte haben Schulden, alles ist knapp geworden und ich bedauere diesen Trend sehr." Mit seinem Buch wolle er sowohl Kollegen erreichen, als auch Patienten über die teils unerwünschten Folgen von Medikamenten aufklären.