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The Last Guardian im Test: Ein intimes Meisterwerk

Seit 2007 in Arbeit und für 2011 als Release angepeilt, landete das Action-Adventure The Last Guardian in der Entwicklungshölle.

Heute Redaktion
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Es brauchte fünf weitere Jahre und eine neue PlayStation-Generation, dass das Spiel nun schlussendlich doch das Licht der Bildschirme erblicken konnte. Schon der Einstieg ins Adventure zeigt, dass man hier nicht an der Hand genommen und durch die Gegend geführt wird. Die Steuerung von The Last Guardian wird zwar anfangs stückweise kurz eingeblendet, was man damit anfängt und was man eigentlich zu tun hat, muss der Spieler aber selbst herausfinden. Selbst die Story zeigt sich mysteriös – eine Anfangsszene bringt uns Kinderlachen, einen mit Erde fast zugedeckten leuchtenden Schild und einen Schatten, der darüberfällt. Das war's schon.

Zuallererst landet der Spieler in einem Szenario, das man aus Gravity Rush zu kennen glaubt. Scheinbar ohne Erinnerung wacht man im Körper einen kleinen Buben in einem Ruinengebilde auf – und weiß nicht, ob man besorgter über die mysteriösen Tätowierungen sein soll, die man am Körper hat, oder über das riesenhafte Wesen, das verängstigt, verletzt und aggressiv nur wenige Meter neben einem angekettet liegt. Die ersten Sätze zeigen es: Die Stimme eines alten Mannes dürfte hier seine Kindheitserlebnisse nacherzählen.

Von Mythen und Religionen

Dass The Last Guardian viel mit mythischen und religiösen Geschehnissen spielt, zieht sich von unserer ersten Tat bis zum Ende des Games. Nach den ersten Schreckmomenten und mit viel Futter als Überredung dürfen wir uns dem Fabelwesen Trico nähern und die Speere aus seinem Körper ziehen, Androklus und der Löwe lassen grüßen. Tricos Vertrauen haben wir noch lange nicht gewonnen, doch argwöhnisch beobachtend lässt uns die riesige Kreatur mit dem Kopf einer Katze, den offenbar gebrochenen Flügeln eines Vogels und dem Verhalten und Appetit eines Hundes, ihre Ketten sprengen.

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Was hier beginnt, ist eine mystische Reise, die uns überraschen soll. So beeindruckend die ersten Minuten und das Setting von The Last Guardian sind, wirklich vom Hocker reißt einem der Titel anfangs nicht. Das soll sich aber drastisch ändern. The Last Guardian ist ein Spiel, das sich entfalten muss, und es ist mehr als belohnend, wenn man dem Action-Adventure die Zeit dazu gibt. Bis dahin raufen wir uns mit dem Titel so zusammen, wie es der tätowierte Bub mit Trico macht – abwartend, beobachtend, mal neugierig, mal aggressiv.

Minimalistische Musikgestaltung

Über unser Schicksal erfahren wir auch Stunden ins Spiel hinein wenig. Die Ruinenstadt wird immer abwechslungsreicher, offenbart uns aber nichts über die Geschehnisse, die wir hinter uns haben. Die Musik, die Sprache und die Soundeffekte sind minimalistisch gehalten. Der Erzähler meldet sich alle 20 bis 30 Minuten in nur zwei, drei kurzen Sätzen in einer unbekannten Sprache zu Wort und schildert entweder, was gerade passiert oder was unserem Begleiter gerade am Herzen liegt. Die Übersetzung funktioniert per Untertiteln. Trico können wir später auch zu uns rufen und noch später auf Befehl in eine Richtung gehen, springen oder tauchen lassen – dazu nutzt der Bub ebenfalls die unbekannte Sprache.

So unerklärlich die Geschichte ist, so unerklärlich ist oftmals auch das Vorankommen. Gleich zu Beginn finden wir zwar einen Durchgang in eine weitere Höhle, einen Ausgang scheint es aber auch hier nicht zu geben. Guter Rat ist teuer und auch – das offenbar aus der Anfangssequenz stammende – gefundene Schild offenbart seinen Zweck erst nach einigen Versuchen. So geht es Stück für Stück weiter durch die mystische Welt, der direkte Weg zum Vorankommen ist meist nicht auf den ersten Blick sichtbar. Die Steuerung selbst zeigt sich makellos, die Spielfigur reagiert genau auf die Befehle und die Tastenbelegungen für "Greifen", "Springen", "Hechten" oder "Tauchen" gehen schnell ins Blut über. Verglichen werden kann das Gameplay mit den ebenfalls von Entwickler Fumito Ueda stammenden Ico und Shadow of the Colossus.

Ein ergreifendes Erlebnis

Je weiter wir uns durch die grafisch opulenten Ruinen arbeiten, umso tiefer wird die Freundschaft mit dem Wesen, das uns nicht mehr von der Seite rücken will. Hier setzen nicht nur die Rätsel ein, die nur gelöst werden können, wenn Tier und Mensch zusammenarbeiten, sondern auch die Faszination, die The Last Guardian innewohnt. Müssen wir um eine Ecke verschwinden, um einen Zugang für unseren riesigen Begleiter zu finden, jault uns Trico herzzereißend nach. Wittert Trico Futter, das wir durch einen Spalt zu ihm schleppen wollen, versucht sich der Riese verzweifelt durch den Spalt zu pressen. Und werden wir von mysteriösen Samurai-gleichen Figuren attackiert, wirft sich Trico mit aller Gewalt gegen Eisentore, um uns zu Hilfe kommen zu können.

Lange gab es keinen Titel, in dem uns eine Figur so ans Herz wuchs, wie es in The Last Guardian der Fall ist. Die Freundschaft zwischen Tier und Mensch ist auch bitter nötig, denn ohne das gegenseitige Verständnis kommt man in The Last Guardian nicht weiter. Beispiel: Wir müssen die tierische Neugier wecken und Trico mit einem schweren Türöffnungsmechanismus spielen lassen. Dreht er den Mechanismus mit seinen Klauen, zerren wir einen Wagenanhänger hinter dem sich hebenden Gitter hervor. Doch was damit anfangen? Nach Minuten wird uns klar: Wir stellen uns mit unserem Gewicht auf eine Seite und bringen Trico dazu, seine Klauen auf die andere Seite niederzuschmettern. In die Höhe katapultiert entdecken wir einen neuen Raum und öffnen das riesige Tor, durch das unser Begleiter wieder zu uns stoßen kann.

Fantastische Inszenierung

Fantastisch inszeniert sind einige Action-Sequenzen des Titels. Während unser tierischer Begleiter eine unglaubliche Angst vor mit Augen verzierten Spiegeln zu haben scheint, stoßen wir diese zum Fortkommen in die Tiefen der Abgründe, die sich unter uns auftun. Einer dieser Spiegel reißt jedoch die Plattform mit sich, auf der wir stehen - uns bleibt die Möglichkeit, mit der Plattform in die Tiefe zu fallen oder in den sicheren Tod zu springen. Vollkommen überraschend schaltet das Spiel in einen Zeitlupenmodus, Trico schnappt mit seinem Maul nach uns, um uns zu fangen – und verfehlt!

Die nächste Überraschung ist, dass wir gerade noch den Schwanz des Wesens packen können, das in zufriedenes Jaulen verfällt, weil es seinen kleinen Begleiter doch nicht verloren hat. Hier kommen ganz große Gefühle auf, ein Erlebnis, das seinesgleichen sucht. So kameradschaftlich die Verbindung zwischen Trico und den Buben auch ist, so erfrischend ist, dass sie nicht künstlich inszeniert scheint. Trico weigert sich etwa, in hungrigen Zustand weiterzugehen – wir müssen erst ein paar Fässer Futter in einen See werfen, um die Kreatur dazu zu bringen, doch ins Wasser zu springen. Andererseits klettern wir auf den Kopf des Tieres und wollen es auf Befehl zu einem Vorsprung springen lassen. Das vermeintlich störrische Tier weigert sich jedoch, zu unserem Frust.

Tier bleibt immer Tier

So suchen wir genervt eine Möglichkeit, doch irgendwie zum Vorsprung zu gelangen. Währenddessen lehrt uns Trico Geduld, indem er in seiner spielerischen Neugierde zu einer ganz anderen Stelle schnuppert und uns dort den eigentlichen Ausweg aus den Ruinen offenbart. Trico gerät nie zum stupide gehorchenden Helfer, sondern folgt seinen Instinkten und Trieben und schaltet schon mal auf Durchzug, wenn hinter einer Mauer ein köstlich duftender Topf wartet. Erst nach und nach reagiert Trico schneller auf Zurufe, zur ausführenden Maschine wird er zum Glück nie. Sorge hatten wir, dass der Titel aufgrund der langen Entwicklungszeit vor allem grafische Schwächen offenbaren könnte. Ganz klar: Die Grafik liegt nicht auf Augenhöhe mit aktuellen Highend-Titeln à la Battlefield 1 und Uncharted 4: A Thief's End, zeigt aber keine großen Macken und passt zur Inszenierung des Titels.

Während der Hauptcharakter manchmal etwas grob gestaltet aussieht, können sich vor allem die Umgebungen, Wasser, Himmel und Effekte sehen lassen. Auch Trico wurde liebevoll detailliert dargestellt – springt er aus dem Wasser und beutelt sich, fliegen Wassertropfen und Federn über den Bildschirm. Macken zeigt manchmal die Kameraführung. Besonders wenn man auf Tricos Körper klettert, verliert sich die Kamera irgendwo im Dunkeln von Tricos Federkleid. Diese Missstände kommen gelegentlich vor, zum Großteil ist die Kameraführung aber doch in Ordnung.

Fazit: Ein emotionales, intimes Kunstwerk

Der Zahn der Zeit hat The Last Guardian zum Glück verschont – vielleicht auch, weil sich das Spiel gar nicht mit aktuellen Titeln messen, sondern ein tiefergehendes Spielgefühl vermitteln will. The Last Guardian ist kein Titel, der einem schnell die Erfolge um die Ohren haut oder mit bombastischen Effekten ohne Bedeutung glänzen will. Das Erlebnis, dass das Adventure dem Spieler beschert, ist eines, das sich entfalten muss. Wer schon einmal ein verletztes Tier gerettet hat, weiß, wie viel Arbeit und Geduld darin steckt, sich das Vertrauen des Lebewesens zu erarbeiten. Genau das kann The Last Guardian perfekt in Videospielform ummünzen.

Nicht alle werden mit The Last Guardian schnell warm werden. Wer sich dennoch die Zeit nimmt, wird garantiert überrascht werden und eine Erfahrung machen, die er auch noch in Jahren nicht vergessen wird. Das Spiel mag vielleicht wenig Stoff für wiederholte Spieldurchgänge liefern, wie ein einschneidendes Erlebnis wird es aber lange, wenn nicht ewig im Gedächtnis bleiben. The Last Guardian ist ein emotionales, intimes Meisterwerk. Es ist mehr als ein Spiel, es ist Kunst. Selten hat uns ein Spiel um unser Schicksal und unsere Begleiter bangen lassen, uns zwischen Trauer und ungläubigem Staunen gefangen gehalten. Und noch seltener haben wir uns in ein Spiel so tief einleben können, wie in The Last Guardian.

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