Politik

Werden Österreichs Schüler immer dümmer?

Unser Schulsystem schafft unfähige Kinder, meint der deutsche Kinderpsychiater Michael Winterhoff. Ihnen fehle Arbeitshaltung.

Heute Redaktion
Teilen

Unsere Schüler werden immer dümmer. Diese steile These stellt der deutsche Kinderpsychiater und Bestsellerautor Michael Winterhoff in seinem jüngsten Buch auf. Schuld sei ein Bildungssystem, das die Schulen auf Effektivität trimmt. Dabei würden Kinder einfach mehr Anleitung und fähige Bezugspersonen brauchen – "Lehrer, die vorne stehen und sagen, was richtig und falsch ist".

Heute: Warum werden unsere Schüler immer dümmer?

Dr. Michael Winterhoff: Erstens: Viele Kinder entwickeln sich in ihrer Psyche nicht mehr wie früher. Sie bleiben auf einer Kleinkind-Stufe stehen, leben eher lustorientiert und sind weder lern- noch leistungsbereit.

Zweitens: Das Bildungswesen in Deutschland wurde nach OECD-Vorgaben verändert, und das macht man jetzt in Österreich auch. In der OECD sitzen Leute, die keine Ahnung von Kindern haben und sie auf die digitale Welt vorbereiten wollen. In dieser digitalen Welt sollen sich die Kinder vieles selbst erarbeiten. Daher kommen die Konzepte, dass man die Kinder schon im Kindergarten auf sich allein gestellt lässt, wo das Kind alles allein entscheiden soll.

In den Schulen haben wir jetzt „autonomes Lernen", Schüler sollen sich das Wissen selbst beibringen. Das ist völlig fatal: Denn das wichtigste, was wir Menschen brauchen, ist die emotionale und soziale Psyche, die sich nur über Bindung und Beziehung entwickelt. Diese Psyche brauchen wir, um arbeiten zu gehen.

Wenn man Lehrer also zu Lernbegleitern degradiert, haben die Kinder keine Chance sich zu entwickeln.

Heute: Sie schreiben, dass dieses „autonome Lernen" Kinder zu Egomanen und Autisten macht. Was sollte man denn ändern?

Picture

Winterhoff: Wir reden hier nicht über Lernmethoden wie Frontalunterricht oder Offene Gruppen. Entscheidend ist, dass der Unterricht vom Lehrer geführt wird. Aber die OECD vertritt die Ideologie, dass wir gar keine Lehrer brauchen – dass ist ja das Fatale. Wir haben in Deutschland heute meist Lernbegleiter, die den Kindern das Wissen auf eine Theke legen, und die Kinder sollen sich selbst bedienen.

Heute: Sie bezweifeln, dass diese Kinder später einmal arbeitsfähig sind.

Winterhoff: Genau. In Deutschland haben 50 Prozent der Abiturienten keine Hochschulreife mehr. Sie haben Probleme in Deutsch und Mathe. Viele können nicht sinnerfassend lesen, haben aber ein Abitur. Oder: Nach dem Studienabschluss besteht der Drittel der Absolventen die Probezeit in den Betrieben nicht. Ihnen fehlen die sozialen Fähigkeiten, sie leiden an Selbstüberschätzung. In kaufmännischen Berufen können wir ein Drittel der Lehrstellen nicht mehr besetzen, weil fähige Lehrlinge fehlen.

Heranwachsenden fehlt Arbeitshaltung, Sinn für Pünktlichkeit, Erkennen von Strukturen und Abläufen. Das Handy ist denen wichtiger als der Kunde.

Kindern die Handys wegnehmen?

Heute: Soll man Kindern also die Handys wegnehmen?



Winterhoff: Das ist nicht die Lösung. Unvernünftige Eltern geben den Kindern ja die Geräte. Wir brauchen ein anderes Bildungssystem mit kleineren Gruppen und Lehrern, die die Kinder anleiten. Wir schmeißen jetzt 5 Milliarden Euro für Tablets raus, die die Lehrer gar nicht gefordert haben. Die Politik drückt das gnadenlos durch. Auf 53 Kinder am Tablet habe ich dann einen Lehrer am Zentral-PC – das ist abstrus.

Heute: Sie fordern also dominante Lehrer, Gehorsam und Ordnung?



Winterhoff (erregt): Nein, das haben sie komplett falsch verstanden, stop.

Die Bildung der Psyche ist ein Hirnreifungs-Prozess – ähnlich dem Erlernen einer Sportart, eines Instruments oder einer Sprache. Das hat mit Erziehung gar nichts zu tun. Ich wurde 1955 geboren, autoritär erzogen, es gab Schläge zuhause und in der Schule. Trotzdem sind meine und die folgende Generation zu der erfolgreichsten Generation der Welt geworden.

Entscheidend ist: Das Entwicklungsalter eines Kindes ist ausschlaggebend für sein Verhalten. Ein fünfjähriges Kind würde sich in einem Restaurant automatisch gut benehmen, weil es eine fremde Umgebung wahrnimmt und die Menschen nicht stören will. Vor dem Beginn der Digitalisierung 1995 war jedes Kind mit drei Jahren kindergartenreif, mit sechs Jahren schulreif, mit 16 Jahren ausbildungsreif – das funktioniert heute nicht mehr, weil sich die Kinder nicht mehr entwickeln.



Es geht also nicht um Gehorsam. Die Entwicklung der Psyche geht nur über Bindung und Beziehung. Wenn ich Kindern Lehrer und Erzieher wegnehme, entziehe ich ihnen die Möglichkeit, ihre Psyche entwickeln zu können. Das zeigt ja auch eine aktuelle Studie aus dem Burgenland: 98 Prozent von 320 befragten Pflichtschülern wünschen sich einen Lehrer, der vorne steht. Und Lehrer, die sagen was richtig und falsch ist. Diese Schüler wünschen sich Noten.

Wir leben in einer Zeit, wo immer alle befragt werden. Warum befragen wir also die Kinder nicht direkt, wie sie unterrichtet werden wollen.

Mehr Zeit für Kinder

Heute: Kritiker werfen Ihnen „Uraltpädagogik" vor.

Winterhoff: Ich bin Arzt und nicht mit Pädagogik befasst. Ich bin als Kinderpsychiater zuständig, wenn Störungen da sind. Ich äußere mich, weil diese Störungen mittlerweile zur Gesellschaftsstörung geworden sind. Ich vertrete keinen Erziehungsstil und schon gar keinen autoritären. Ich mache mich dafür stark, dass Kinder wieder Eltern haben, die sie begleiten und Zeit für sie haben.

Heute: Was geschieht mit den Kindern, die jetzt in diesem Bildungssystem stecken?

Winterhoff: Sie werden lebensuntüchtig und nicht arbeitsfähig. Sie werden unfreie Menschen und sind auf Versorgung angewiesen. Enorm viele Lehrer stimmen mir zu, ich habe viele positive Rückmeldungen auf mein Buch „Deutschland verdummt". Die Lehrer ärgern sich, weil sie gar nicht gefragt werden. Würden wir uns nach den Leuten richten, die eine Ahnung haben, könnte sich morgen alles ändern.

Für mich als Kinderpsychiater ist es ein wahnsinniges Elend, was wir heute mit unseren Kindern tun. Wenn ich im Kindergarten keine Bindung und Beziehung biete, lasse ich die Kinder verwahrlosen. In den Schulen geht das in eine ähnliche Richtung. Wenn wir das nicht wollen, müssen wir eine Bildungsoffensive für Kinder fordern.

"Deutschland verdummt" , Dr. Michael Winterhoff.

ISBN 978-3-579-01468-5,

224 Seiten gebunden, 20,60 Euro.

Gütersloher Verlagshaus