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"Ich riss mir büschelweise Haare aus"

Christine* litt jahrelang an Trichotillomanie: dem Zwang, sich Haare auszureissen. Die 33-Jährige hat uns von den Jahren des Schämens erzählt.

Heute Redaktion
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Eine Trichotillomanie-Betroffene schilderte dem "Heute.at"-Schwesternmedium "20 Minuten Friday" ihren Fall. (Symbolbild)
Eine Trichotillomanie-Betroffene schilderte dem "Heute.at"-Schwesternmedium "20 Minuten Friday" ihren Fall. (Symbolbild)
Bild: Unsplash

Zwischen 0,5 und 3,5 Prozent der Bevölkerung erkranken im Laufe ihres Lebens an Trichotillomanie – dem Zwang, sich selber Haare auszureißen (siehe Box). Die meisten Betroffen getrauen sich nicht, über ihr Problem zu sprechen. Christine* bricht das Tabu – und erzählt davon, wie sie die Krankheit überwunden hat:

"Hör auf an dir rumzuzerren", sagte eine Arbeitskollegin zu mir. Ich war etwa 24 Jahre alt, arbeitete während meines Dolmetscher-Studiums für das Rote Kreuz und fühlte mich ertappt. Es war das erste Mal, dass mich jemand darauf ansprach.

Dass ich mir Haare ausriss, war mir bis dahin gar nicht bewusst gewesen, und ich erinnerte mich auch nicht daran, wann es angefangen hatte. Wahrscheinlich vor Jahren. Meine Kollegin ließ den Begriff Trichotillomanie fallen. Ich hatte davon schon gehört, mit mir in Verbindung brachte ich das aber nicht. Ich zupfte mir gelegentlich Haare aus, ja, ok. Aber ein Problem? Nein, das hatte ich nicht.

Zwanghaftes Ausreißen der Haare

Zwischen 0,5 und 3,5 Prozent der Bevölkerung erkranken im Laufe ihres Lebens an Trichotillomanie, also dem Zwang, sich selber Haare auszureißen. In den meisten Fällen ist laut Steffi Weidt, Leitende Ärztin an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, das Kopfhaar betroffen. Es gibt aber auch Betroffene, die sich Schamhaare, Brauen und Wimpern ausreißen.

"Ich wusste genau, wie ich die Haare föhnen musste."

Dennoch machten die Worte etwas mit mir. Ich nahm das Zupfen an meiner Stirn plötzlich wahr. Es war mir peinlich. Doch ich zupfte weiter, einfach heimlicher. Ich war überzeugt, die Sache im Griff zu haben.

Niemand merkte es. Ich wusste genau, wie ich die Haare föhnen musste, damit keiner die kahle Stelle und die verkümmerten krausen Härchen an meiner Stirn sah. Ich riss nur die Haare an der Stirn aus, immer an derselben Stelle. In meinen schlimmsten Zeiten nahm ich ganze Strähnen, machte einen Knoten rein und riss mir das Büschel vom Kopf.

Manchmal schaffte ich es, den Impuls so weit zu unterdrücken, dass ich nur sehr stark an den Haaren zerrte, statt sie ganz auszureißen. Welche Schmerzen ich mir damals zugefügt habe! Doch der Druck war zu groß; ich konnte einfach nicht aufhören. Ich riss vor dem Fernseher, vor dem Computer. Wenn ich Stress hatte, wurde es schlimmer.

Das Reißen verschaffte mir Erleichterung. Das schlechte Gewissen und die Schuldgefühle kamen immer postwendend. Ich kämpfte und kämpfte gegen den Zwang. Doch je mehr du kämpfst, desto mehr verlierst du.

"Mein Freund nahm mich ernst."

Ich war knapp 29, als ich meinen Freund kennen lernte, meinen jetzigen Verlobten. Als wir ein halbes Jahr zusammen waren, traute ich mich zum ersten Mal, mit jemandem zu sprechen. Irgendwie ging von da an alles bergauf.

Ich war erstaunt, dass er nichts gemerkt hatte. Aber er nahm mich ernst, und das tat mir so unglaublich gut. Ich fing an, mich ernsthaft mit meinem Leiden auseinanderzusetzen. Im Internet stieß ich auf die Möglichkeit von Hypnose. Nach langem Zögern vereinbarte ich einen Termin.

"Es ist wie ein neues Leben"

Mein erster Termin in der Hypnose-Praxis war wider Erwarten entspannt. Der Coach und ich redeten viel. Noch unterwegs nach Hause kamen plötzlich Erinnerungen aus meiner Kindheit hoch, harmlose, etwa, wie mich ein Mitschüler beim Basteln mit irgendwas in die Seite piekste.

Und dann habe ich einfach aufgehört, mir die Haare auszureissen. Ich kann es nicht erklären.

Zwei Wochen später hatte ich eine weitere Sitzung. Diesmal war es sehr intensiv und aufreibend, eine Reise in die Vergangenheit, zu Momenten, als ich mich schwach fühlte. Ich weinte viel.

Seit der Therapie vor drei Jahren habe ich mir keine Haare mehr ausgerissen. Es ist wie ein neues Leben. Manchmal habe ich Angst, dass ich wieder anfange, zum Beispiel jetzt, wenn ich darüber rede. Doch es wird nicht passieren.

Bei meiner Hochzeit diesen Sommer werde ich meine Haare zu einem Chignon binden. Darauf freue ich mich.

*Name geändert

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