Politik

Kanzler: "Ja, der ganze Balkan soll zur EU kommen"

Alexander Schallenberg im ersten "Heute"-Interview: Er will bis 2024 Kanzler bleiben, sagt was er von den Chats hält und lüftet sein Krawatten-Rätsel.

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Alexander Schallenberg (VP) im ersten <em>"Heute"</em>-Interview als Kanzler.
Alexander Schallenberg (VP) im ersten "Heute"-Interview als Kanzler.
Sabine Hertel

Freitagnachmittag im Bundeskanzleramt. Alexander Schallenberg hat einen wahren Interview-Marathon hinter sich, 13 Tageszeitungen hat er Fragen beantwortet – in drei Dreier-Runden und vier Einzelterminen. Die Pause vor dem Gespräch mit "Heute" nützt er für eine Zigarette ("Ein Laster, aber ich glaube, eine lässliche Sünde"), das Fenster des Kanzler-Büros steht also weit offen. Alexander Schallenberg sitzt nicht im Kreisky-Zimmer, in dem Sebastian Kurz residierte, sondern in jenem Raum, in dem etwa Wolfgang Schüssel, Werner Faymann und Christian Kern den Amtsgeschäften nachgingen. Die Umzugskartons sind großteils noch nicht ausgeräumt – und auch sonst findet sich der 52-Jährige erst in seinem neuen Leben zurecht …

"Heute": Herr Bundeskanzler, haben Sie sich schon an die neue Anrede gewöhnt?
Alexander Schallenberg: Noch nicht ganz.

Ich habe gelesen, Sie haben 5 Vornamen – stimmt das?
Nein, das stimmt nicht. Momentan kursiert sehr viel Falsches im Internet. Ich habe drei: Alexander Georg Nicolas.

Woher kommt das Gerücht?
Das weiß ich nicht. Meine Familie hat mich darauf hingewiesen.

Ihr erster Anruf, ob Sie das Amt annehmen sollen, galt Ihrem Vater. Was hat er gesagt?
"Es ist eine Ehre, wenn du auf dieser Position deinen Dienst an der Republik verrichten kannst."

Und dann haben Sie gesagt: "Gut, mach ich"?
Ich habe schon davor zugesagt, weil wir sehr ähnlich denken. Es war eher eine Information an meine Familie.

"In einer Demokratie sollte man sich niemals vor Wahlen fürchten."
Der Regierungschef hat noch längst nicht alle Kartons im ehemaligen Büro von Wolfgang Schüssel ausgepackt.
Der Regierungschef hat noch längst nicht alle Kartons im ehemaligen Büro von Wolfgang Schüssel ausgepackt.
Sabine Hertel

Haben Sie vor, bis zur nächsten Nationalratswahl 2024 Kanzler zu bleiben?
Ja.

Fürchten Sie nicht, dass die Regierung scheitert und es 2022 Neuwahlen gibt?
Erstens: In einer Demokratie sollte man sich niemals vor Wahlen fürchten. Zweitens: Ich gehe nicht davon aus. Drittens: Ich bin vor 96 Stunden, nach einer veritablen innenpolitischen Krise, angelobt worden. Die ist nicht in vier, fünf Tagen vorbei. Da wird es jetzt noch viel Arbeit brauchen, um die Situation wieder zu beruhigen. Die österreichische Innenpolitik ist gerade wie eine Schneekugel, die durchgebeutelt wurde. Jetzt müssen wir schauen, dass sich der Staub legt.

Video: Schallenberg im "Heute"-Wordrap

Glauben Sie ernsthaft daran?
Ich bin zuversichtlich, dass das gelingt. Ich habe auch in den Gesprächen mit Vizekanzler Werner Kogler den Eindruck, dass sich alle der Verantwortung bewusst sind. Und die, die es nicht sind, sollten es schleunigst werden. Wir sind noch nicht durch mit der Pandemie, wir müssen mit der Impfquote raufkommen, wir haben einen Wirtschaftsaufschwung, den wir unterstützen müssen. Auch die ökosoziale Steuerreform, die wir auf den Weg gebracht haben, muss in den nächsten Monaten umgesetzt und in Gesetzestexte gegossen werden. Wir haben ein sehr gehaltvolles Regierungsprogramm. Was die Menschen jetzt aber nicht wollen, sind Neuwahlen.

Das "Heute"-Politbarometer weist Sie aktuell als beliebtesten Politiker nach dem Bundespräsidenten aus. Die ÖVP hingegen schwächelt massiv – wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?
Ich habe einmal den Satz gehört: "Umfragen sind wie Parfüm. Man kann daran schnuppern, sollte aber nicht davon trinken" – der gefällt mir sehr. Umfragen sind volatil und wechseln schnell. Wir hatten eine tiefgehende Erschütterung in Österreich. Das Bild kann in ein paar Wochen – gerade was die Werte für die ÖVP anlangt – wieder ein völlig anderes sein.

"Hinter meinen Krawatten steckt keine tiefere Botschaft, heute sind es springende Hirschen."
Schallenberg erklärt Clemens Oistric (<em>"Heute"</em>) das Geheimnis seiner Krawatten.
Schallenberg erklärt Clemens Oistric ("Heute") das Geheimnis seiner Krawatten.
Sabine Hertel

Für Sie persönlich hat sich in den letzten Tagen viel geändert. Haben Sie sich schon an die Cobra-Bewachung gewöhnt?
Sie sind sehr diskret, ich bin dankbar, dass sie ihren Job machen. Von Gewöhnung kann aber noch keine Rede sein.

Wie unterscheidet sich der Alltag als Bundeskanzler zu jenem als Außenminister?
Es ist ganz anders. Als Bundeskanzler ist man nochmals ein Eck mehr im Schaufenster. Ich kann aber noch gar nicht abschätzen, was alles anders ist, weil ich rund um die Uhr arbeite und Gespräche führe. Ich kann Sie aber beruhigen: Ich habe "Ja" zu diesem Amt gesagt und werde es mit allen mir gebotenen Kräften erfüllen.

Sie haben am Donnerstag am Airport selbst Geld abgehoben, das hat viele Leser erstaunt. Was sind noch Tätigkeiten, die Sie weiterhin selbst machen werden?
Zum Beispiel Lebensmittel einkaufen. Ich lebe alleine und wenn der Kühlschrank leer ist, gehe ich garantiert in den Supermarkt. Ich habe eine Familie, ich habe Freunde – ich habe dasselbe Leben wie andere Österreicher auch. Nur weil ich Bundeskanzler bin, hat sich das nicht geändert.

Ihre Krawatte auf der Parlamentshomepage erstaunt Internet-User: Mögen Sie Dinosaurier?
Männer in Arbeitskleidung sind alle grau in grau. Der einzige Farbfleck, den wir bei einem Anzug haben können, sind die Krawatten. Ich achte da gar nicht so sehr auf das Muster. Heute sind es zum Beispiel springende Hirsche (lacht). Ich kann Sie aber beruhigen: Da steckt keine tiefere Botschaft dahinter – schon gar nicht politischer Natur.

Das Internet lachte zuletzt über eine Twitter-Panne. Ihre erste Auslandsreise wurde am Account von Sebastian Kurz geteilt. Ist er vielleicht doch ein bisschen Schattenkanzler?
Überhaupt nicht. Alle Mitarbeiter sind derzeit am Anschlag, da geschehen auch Fehler. Es war ein Versehen, das sehr schnell korrigiert wurde. Kanzler bin ich. Die Verfassung kennt den Begriff des Schattenkanzlers auch nicht.

Warum haben Sie eigentlich keinen Insta-Account?
Ich habe einen Twitter-Account. Es soll die Arbeit im Mittelpunkt stehen, nicht ich.

"Ich habe als Kanzler ein neues Handy bekommen. Ich beginne sozusagen bei null."
Schallenberg (VP) im Gespräch mit Nicolas Kubrak und Clemens Oistric (<em>"Heute"</em>)
Schallenberg (VP) im Gespräch mit Nicolas Kubrak und Clemens Oistric ("Heute")
Sabine Hertel

Wie oft telefonieren Sie mit Sebastian Kurz?
Zuletzt hatten wir Montagabend Kontakt, bei der Klubsitzung – persönlich.

Schreiben Sie viele Chatnachrichten?
Ich schreibe WhatsApp oder SMS. Es war auch als Außenminister ein durchaus übliches Kommunikationsformat mit den Kollegen anderer Länder. Im 21. Jahrhundert ist das – ich denke auch für Journalisten – gar nicht mehr anders gestaltbar. Auch im Familienverband verwendet doch jeder WhatsApp-Gruppen.

Haben Sie sicherheitshalber Ihr Handy gesäubert?
Ich habe als Kanzler ein neues Handy bekommen. Ich beginne sozusagen bei null.

Finden Sie es okay, wenn man Frauen in Nachrichten "schirch" nennt, Parteifreunde als "Arsch" bezeichnet oder Bundesländer "aufhetzen" will? Was ging Ihnen bei dieser Diktion durch den Kopf?
Ich halte einen solchen Umgangston nicht für richtig und würde ihn selbst nicht pflegen.

Sie haben schon mehrmals gesagt, dass Sie die gegen Sebastian Kurz und seine Vertrauten erhobenen Vorwürfe für falsch halten. Wieso eigentlich? Durch die Chats kann man alles Schwarz auf Weiß nachlesen.
Ich persönlich bin der Meinung, dass strafrechtlich nichts hängen bleiben wird, habe aber großes Vertrauen in die Justiz, dass das alles rasch und restlos aufgeklärt wird. Man muss aber unterscheiden zwischen dem unschönen Bild, dass zweifellos erzeugt wurde und der strafrechtlichen Beurteilung. Die obliegt einzig und allein der Justiz.

"Wir schlittern in eine Pandemie der Bummler, Zauderer und Zögerer."

Kommen wir zum Thema Nummer eins der letzten eineinhalb Jahre: Corona. Fürchten Sie, dass noch ein Lockdown kommt?
Wir müssen vorsichtig sein, denn es ist jetzt eine Pandemie der Ungeimpften. Ich finde es das enttäuschend, denn Österreich hat genug Impfstoff. Dennoch schlittern wir in eine Pandemie der Bummler, Zauderer und Zögerer.

Bleiben Sie dabei: Sollten Einschränkungen nötig sein, dann nur noch für Ungeimpfte?
Wir müssen überlegen, welche Maßnahmen notwendig sind, um die Impfquote zu steigern, denn anders werden wir die Pandemie nicht besiegen.

Warum stockt die Einführung der 3G am Arbeitsplatz so?
Es wurde im Nationalrat beschlossen, wird nächste Woche im Bundesrat behandelt. Ich appelliere an die SPÖ, den 3G zuzustimmen, denn ich finde die Regelung wichtig und richtig.

Es gibt das Gerücht, dass die SPÖ nicht zustimmen möchte, da es in der Verordnung nur bis 30. Oktober begrenzt ist. Stimmt das?
Die Verordnung selbst wird gerade erarbeitet. Ohne gesetzlicher Grundlage wird es kein 3G am Arbeitsplatz geben, deswegen brauchen wir die Zustimmung des Bundesrats.

Kürzung bei AMS-Geld? "Der Kurs wird jedenfalls fortgesetzt …"

Sie haben es bereits angesprochen: Die Impfquote stockt. Können Sie sich eine Impfpflicht vorstellen?
Nein.

Werden Sie, wie Kurz, bei einer Verschärfung der Arbeitslosenregeln bleiben? Peitschen Sie eine Kürzung bei der Notstandshilfe auf 92 Prozent des Arbeitslosengeldes durch?
Ja, der Kurs wird jedenfalls fortgesetzt. Ich bin der Meinung, dass das, was in der Koalition außer Streit gestellt wurde, umgesetzt werden muss.

Laut Arbeiterkammer würde das jedoch massive Einbußen für 200.000 Haushalte bedeuten. Riskieren Sie damit nicht, zum Herzlos-Kanzler zu werden?
Ich bin erst seit etwa 96 Stunden Bundeskanzler. Ich habe das Amt in einer laufenden Legislaturperiode übernommen. Wir arbeiten ein Regierungsprogramm ab, viele Projekte laufen bereits und sollen auch fortgeführt werden.

Sie haben in Brüssel gesagt, dass der Westbalkan eine Herzensangelegenheit für Österreich sei. Wie wird sich das in Taten niederschlagen?
Schon Sebastian Kurz war bei dem Thema sehr engagiert. Für uns ist der Westbalkan die unmittelbarste Nachbarschaft. Uns verbindet auch eine starke menschliche Brücke, da in Österreich über 550.000 Menschen leben, die familiären Hintergrund am Westbalkan haben. Schon die Migrationskrise hat bewiesen, dass sich die Sicherheit und Stabilität dort unmittelbar auf uns auswirkt. Mein Ziel ist, dass Europa zusammenwächst und das ist erst vollbracht, wenn alle Staaten Ex-Jugoslawiens in der EU sind.

Das heißt: Der ganze Balkan soll zur EU?
Ja! Klar ist aber auch, dass das nicht morgen passieren wird, sondern ein langer Prozess ist. Der Balkan ist heute nicht mehr der "Hinterhof" Europas. Er ist der Innenhof, er ist nur von EU-Mitgliedern umgeben. Die Geschichte zeigt, dass Instabilität am Balkan sich unmittelbar auf Europa auswirkt.

Wenn aber der ganze Balkan der EU beitritt, droht dann nicht die Aufweichung unserer Werte, was beispielsweise die Rechtsstaatlichkeit angeht?
Ganz im Gegenteil. Um der Union beizutreten, müssen alle Werte und Regeln der EU verinnerlicht werden. Wenn wir als EU unser Lebensmodell nicht in den Westbalkan exportieren, werden wir früher oder später mit anderen Konzepten – zum Beispiel aus China, Russland oder der Türkei – konfrontiert sein. Dies wäre nicht in unserem Interesse.