Eskalation in Syrien

1.000 Tote! "Im schlimmsten Fall droht ein Bürgerkrieg"

Mehrere Tote melden Menschenrechtsorganisationen in den letzten Tagen in Syrien, in den sozialen Medien kursieren Bilder extremer Grausamkeit.
10.03.2025, 07:59

In Syrien wurden bei Massakern und Gefechten je nach Quelle mehrere Hundert oder über 1000 Menschen getötet. Sicherheitskräften der Übergangsregierung Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS) wird vorgeworfen, 745 Zivilisten exekutiert zu haben. Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa hat angesichts der Kämpfe am Sonntag zu Frieden und Einheit im Land aufgerufen. Bente Scheller, Nahost-Expertin der Heinrich-Böll-Stiftung, erklärt im Interview, was bisher bekannt ist und wie es weitergehen könnte.

Wieso ist die Gewalt eskaliert?

Bente Scheller: Syrische Menschenrechtsorganisationen zeichnen ein einhelliges Bild: Ursprung der Gewalteskalation waren koordinierte, gut vorbereitete Angriffe von organisierten Überbleibseln des Assad-Regimes auf Sicherheitskräfte der HTS in der Küstenregion. Als die ersten Berichte über die Übergriffe zirkulierten, haben sich viele Bewaffnete auf den Weg in die Dörfer an der Küste gemacht. Darauf ist die Situation eskaliert. Bei dieser Eskalation wurden auch Zivilistinnen und Zivilisten von allen Seiten getötet.

Hat die neue Regierung die Gewalt an Zivilisten verübt oder bloß nicht verhindert?

Sie konnten sie nicht verhindern. HTS ist nicht groß genug, um die Sicherheit im gesamten Land zu gewährleisten. Und noch sind nicht alle bewaffneten Gruppen in die syrische Armee integriert. Die Täter sind auch in der von der Türkei ins Leben gerufenen "Syrischen Nationalen Armee" (SNA) zu suchen. Sie waren zuvor auch an Vertreibungen und Übergriffen gegen die Kurden in Afrin beteiligt.

Kurz nach der Machtübernahme versprach HTS-Anführer Ahmed al-Scharaa religiöse Toleranz und den Schutz der Minderheiten. War das eine Farce?

Ich halte seine Äußerungen für authentisch. Innenpolitisch, weil nach 14 Jahren alle im Land kriegsmüde sind und das Land zur Ruhe kommen muss, wenn es wieder auf die Beine kommen will. Deutlich fand ich das zum Beispiel beim Vorrücken auf Damaskus: Da gab es keine Ambitionen, auch an die Küste vorzurücken, und HTS hat auch nicht die Verbindung zwischen Damaskus und dem Küstengebiet unterbrochen, was sie bei Homs leicht hätten tun können.

Außenpolitisch weiß al-Scharaa: Gewalt gegen Minderheiten ruft die internationale Gemeinschaft auf den Plan – insbesondere, wenn sie von Islamisten verübt wird. Sein Ziel aber ist, dass die Sanktionen aufgehoben werden. Dafür ist wichtig, dass Übergriffe wie diese verhindert werden und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden.

Bilder in den sozialen Medien zeugen von Grausamkeit. Droht den Minderheiten in Syrien ein Terrorregime, wie es der IS aufgezogen hatte?

Ich wäre vorsichtig mit allen nicht zweifelsfrei verifizierten Videos. HTS ist nicht vergleichbar mit dem IS. Sie haben repressiv in Idlib geherrscht, aber immer weniger ideologisch. In Idlib, in dem überwiegend Sunniten leben – darunter auch viele Konservative – war klar, dass sie ein islamistisches Terrorregime nicht durchsetzen können, es gab immer wieder Proteste dagegen. Dass sie es in einem viel heterogeneren Gesamtsyrien versuchen und in eine solche Gewalt abgleiten könnten, sehe ich daher noch nicht.

Tausende IS-Kämpfer sitzen im von den Kurden kontrollierten Nordosten des Landes in Gefängnissen. Wächst angesichts der jüngsten Entwicklungen die Gefahr, dass sie befreit werden?

HTS hat wie viele andere syrische bewaffnete Gruppen gegen den IS gekämpft. Die Kurden bräuchten weiterhin internationale Unterstützung, um das im Griff zu behalten. Die angedeutete Kehrtwende der USA sehe ich hier als einen wichtigeren Einflussfaktor als die Entwicklungen an der Küste.

Welche Rolle spielt der Stopp der US-Hilfsgelder?

Es ist ungünstig für Syrien, dass der Regimewechsel mit einer völlig veränderten Haltung der USA zusammenfällt und damit zu rechnen ist, dass die dringendst benötigten Gelder für humanitäre Hilfe, Wiederaufbau und vieles andere gerade jetzt knapper werden. Es wäre wichtig, Syrien zu stabilisieren – und für gute Beziehungen in der Zukunft essenziell, dass europäische Staaten Verantwortung übernehmen und Unterstützung leisten und nicht alles den Golfstaaten überlassen.

Welche Zukunft sehen Sie für das Land?

Im schlimmsten Fall bricht in Syrien ein Bürgerkrieg aus, bei dem Rache ausgelebt wird und weitere Rache nach sich zieht. Im besten Fall gelingt es, die Lage zu beruhigen und die Täter zur Verantwortung zu ziehen – für die jetzigen Übergriffe und die der Vergangenheit. Verbrechen aufzuarbeiten und zu ahnden ist das beste Mittel gegen Rache, aber auch gegen die Angst.

Wie können andere Staaten diese Entwicklung beeinflussen?

Die Einmischung Irans und Russlands, die das neue Regime untergraben wollen, ist gefährlich. Aber auch die Türkei und Israel mit ihren Bombardierungen und Besetzung spielen keine konstruktive Rolle. Westliche Staaten sollten alles daran setzen, diese Art der Einmischung zu verhindern und eine innersyrische demokratische Transition zu unterstützen.

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