Welt

Amokläufer als "Prophet" – so wirr war sein Weltbild

Im Dezember erschien ein Buch des Hamburger Amokläufers. Darin überhöht er sich selbst und rechtfertigt den Holocaust. Zwei Experten ordnen ein.

Bei einem Amoklauf in Hamburg wurden am Donnerstagabend in einer Kirche mehrere Personen getötet.
Bei einem Amoklauf in Hamburg wurden am Donnerstagabend in einer Kirche mehrere Personen getötet.
REUTERS

Im Stadtteil Alsterdorf in Hamburg sind bei einem Amoklauf in einer Kirche der Zeugen Jehovas sieben Menschen erschossen und mehrere verletzt worden. Als die Polizei das Gebäude stürmte, richtete sich der Täter selbst. Beim Täter soll es sich um den 35-jährigen P. F.* handeln – Medienberichten zufolge ein ehemaliges Mitglied der Zeugen Jehovas, das im Streit aus der Gemeinschaft ausgetreten sein soll.

Vor der Tat schrieb F. – wie viele andere Amoktäter – ein Buch. Auf über 300 Seiten liefert der gebürtige Bayer laut eigenen Angaben eine "hochaktuelle Sicht über Gott, Jesus Christus, Satan und die Menschheit". Auf seiner Website stellt er sein Werk kurzerhand auf eine Stufe mit der Heiligen Schrift: "Das ist ein Buch, das die Sicht auf die Welt verändern wird und ein neues Standardwerk neben der Bibel und dem Koran sein wird. Ein Buch, das auch in 100 Jahren noch gültig sein wird."

Das schreibt der Amoktäter

In der Danksagung zieht F. einen Vergleich zu König Salomo: "Wie König Salomo habe auch ich Einblicke in die verschiedenen Lebensbereiche erhalten und bin von Gott mit diesem Werk gesegnet worden." Dann erwähnt er im Vorwort einen Vorfall, nach dem er ein Bedürfnis nach geistigen Werten entwickelt habe. Träume und sogar Albträume seien plötzlich in sein Leben zurückgekehrt, gefolgt von Eingebungen verschiedenster Art, einschließlich prophetischer Träume: "Es scheint, als ob Gott sich persönlich gezeigt hat, um die Wahrheit ans Licht zu bringen." Zudem habe er eine persönliche Reise in die Hölle unternommen, die über drei Jahre dauerte.

F. gibt sich überzeugt, dass das Buch die Sicht auf die Welt völlig verändern werde. Das Werk solle den Werdegang der Menschen beleuchten und das Mysterium des tausendjährigen Königreichs von Jesus erklären: Es soll schlicht "das Unmögliche erklären". Gott, Jesus Christus und Satan beschreibt F. nicht als abstrakte Wesen, sondern als Wesen mit Gefühlen wie Menschen. Darum sollen sie wie Menschen auch impulsiv und von Emotionen geleitet handeln.

    Gegen 21 Uhr kam es am 9. März 2023 zu einem <a target="_blank" data-li-document-ref="100259583" href="https://www.heute.at/g/amoklauf-in-hamburg-mit-mehreren-toten-100259583">Amoklauf mitten in Hamburg</a>.
    Gegen 21 Uhr kam es am 9. März 2023 zu einem Amoklauf mitten in Hamburg.
    Jonas Walzberg / dpa / picturedesk.com

    Das Buch zeugt auch von einem verqueren Geschichtsbild und von einem offenen Antisemitismus. Den Holocaust bezeichnet er etwa als "Akt des Himmels" und "Rache von Jesus Christus an der jüdischen Gemeinde, die ihn nicht als Sohn Gottes anerkennen wollte". Adolf Hitler bezeichnet er als "den Vollstrecker von Jesus Christus". Durch das Buch zieht sich zudem die Kritik an institutionalisierter Religion: "Bei der Kirche dreht sich alles nur um Geld und Macht. Priester interpretieren die Worte Gottes für ihre eigenen Zwecke", schreibt F.

    Das sagen Experten

    "In der Danksagung lassen sich rechthaberische und querulantische Tendenzen erkennen", sagt Thomas Knecht, forensischer Psychiater und leitender Arzt in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Herisau. Der Selbstvergleich mit König Salomo zeuge zudem von Selbstgerechtigkeit: "König Salomo spielt in der Bibel die Rolle des Königs, der eigene Urteile fällt, fern von aller bestehenden Gerechtigkeit." Ebenso lasse sich aus den Aussagen ableiten, dass F. sich als auserwählte Person Gottes sieht: "In der Bibel heißt es: Wenn Gott liebt, dann straft er. Damit legitimiert er eine bevorstehende schwere Straftat."

    Dass F. von seinen Erfahrungen in der Hölle erzählt, soll seine Position als auserwählte Person stärken. "Die Probe, welche Gott ihm auferlegt habe, hat er demnach überstanden. Dies erlaubt ihm, prophetische Fähigkeiten zu beanspruchen." Sowohl der Gebrauch wissenschaftlicher Sprache als auch die Darstellung seiner Ansichten als wissenschaftliche Fakten zeigen zudem ein Streben nach allgemeiner Anerkennung.

    Bei der Kritik von F. an der institutionalisierten Religion sieht Georg Otto Schmid, Religions- und Sektenexperte, Parallelen zu der Einstellung der Zeugen Jehovas: "Es ist typisch, dass die Zeugen Jehovas andere Religionen als falsch bezeichnen und abwerten. Menschen, die aussteigen, behalten diese Einstellung oftmals." Den Antisemitismus von F., den er im Buch zeigt, stuft Schmid hingegen als speziell und außergewöhnlich ein: "Die Zeugen Jehovas sind in der Regel nicht antisemitisch. Viele von ihnen waren selbst Opfer oder haben Angehörige, die Opfer des Nationalsozialismus wurden."

    Weitere Passagen zeigen laut Schmid, dass F. seine eigenen Vorstellungen und Ideen hatte: "Dies kommt grundsätzlich bei den hierarchisch aufgebauten Zeugen Jehovas nicht gut an. Denn die Mitglieder sind dazu angehalten, kritiklos den Lehren der Organisation zu folgen. Gut möglich, dass seine abweichende Einstellung und individuelle Position zu gewissen Punkten ein Grund für seinen Ausstieg oder Ausschluss war."

    *Name der Redaktion bekannt

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