Der Winter neigt sich langsam dem Ende zu, doch Niesen, Husten und Räuspern bleiben alltägliche Begleiter. Während eine leichte Erkältung kaum einschränkt, gibt es Tage, an denen an Arbeit schlicht nicht zu denken ist – sei es wegen starker Erkältungssymptome, psychischer Belastung oder weil man einfach keine Lust auf Schule oder Arbeit hat.
Zumindest in den ersten beiden Fällen gilt: Ab dem dritten Krankheitstag braucht es ein Arztzeugnis. Doch wie krank muss man eigentlich sein, um ein solches zu erhalten? Und was, wenn der Arzt mir nicht glaubt, dass ich krank bin? Darüber sprach "20 Minuten" mit Stephan Steiner, Hausarzt in Wettingen und Mentor am Kantonsspital Baden.
Herr Steiner, Fieber, Grippe – und Liebeskummer: Wann schreiben Sie wirklich jemanden krank?
Die Gründe für eine Krankschreibung sind in den allermeisten Fällen nachvollziehbar. Hat beispielsweise ein Bauarbeiter seine Hand gebrochen oder wurde kürzlich operiert, ist er arbeitsunfähig. Oder ist eine Büromitarbeiterin an einem ansteckenden Virus erkrankt, sollte sie zu Hause bleiben, damit sie nicht weitere Personen ansteckt.
Psychische Erkrankungen sind ebenfalls ein häufiger Grund für Krankschreibungen. "Liebeskummer" als Ursache ist wohl etwas übertrieben, aber es gibt viele private Situationen und Belastungen, welche zu einer psychischen Überlastung führen, sodass eine vorübergehende Krankschreibung gerechtfertigt ist. Hier ist allerdings besonders viel Fingerspitzengefühl gefragt.
Ist jemand oft krank, kommt schnell der Verdacht auf, dass er oder sie simuliert. Ist es in der Schweiz einfach, eine Krankschreibung zu erhalten?
Wie schnell man ein Arztzeugnis bekommt, hängt auch von der Zeit ab, bis ein Arzttermin erfolgt. Einerseits gibt es einen Hausarztmangel – vor allem Anfang und Ende der Woche ist es schwierig, überhaupt einen Termin zu bekommen. Dabei sind rückwirkende Krankschreibungen besonders heikel, weil die geschilderten Symptome eventuell nicht mehr vorhanden und schwer nachzuprüfen sind.
Andererseits bin ich mir sicher, dass viele Ärzte bereits Krankschreibungen ausgestellt haben, die nicht unbedingt nötig gewesen wären. Warum? Weil wir als behandelnde Ärzte den Patienten behandeln müssen, oft nur dessen Aussage haben und deshalb auf die Richtigkeit vertrauen müssen.
Können Sie ein Arztzeugnis auch verweigern, etwa, wenn Sie das Gefühl haben, dass jemand einfach die Schule schwänzen will?
Ja, wir müssen sogar. Arbeitsunfähigkeitszeugnisse sind Urkunden. Wird eine solche falsch ausgestellt, kann der Arzt wegen Urkundenfälschung bestraft werden.
Erkennen Sie als Arzt, wer für eine Krankschreibung lügt?
"Erkennen" ist das falsche Wort. Wenn man aber täglich 20 bis 40 Patientinnen und Patienten sieht, entwickelt man sicherlich ein Gespür für falsche Angaben.
Alle meine Tipps werde ich nicht verraten. Verdachtsfälle gibt es etwa bei Menschen, die gehäuft mit Beschwerden wie Kopfschmerzen, Müdigkeit, Schwindel sowie Erkältungen vorbeikommen. Solche Symptome lassen sich im Labor oder apparativ nicht objektiv nachweisen – hier muss der Arzt oder die Ärztin also genauer hinschauen.
Was heißt denn genauer hinschauen?
Mit genau hinschauen meine ich, mit Feingefühl gezielt nachfragen. Oft reicht ein direktes Gespräch: Manche sind sogar erleichtert, wenn man ihnen sagt, dass sie wohl nicht die ganze Wahrheit erzählen. Je nach wahrem Grund – sei es die Erkrankung einer nahestehenden Person oder eine belastende Arbeitssituation – ist eine gewisse Form von Krankschreibung dennoch möglich.
Es kommt aber auch vor, dass man als Arzt oder Ärztin nicht dahinterkommt und trotzdem eine Krankschreibung ausstellt. Dann setzen wir aber Hürden – etwa indem wir nur kurze Zeugnisse ausstellen oder zeitnah eine erneute Konsultation verlangen.
Finden Sie, dass sich das Kranksein in den letzten Jahren verändert hat?
Ja, definitiv – vor allem seit COVID-19. Es kommen vermehrt jüngere Patienten und Patientinnen in die Praxis. Generell beobachte ich eine gesellschaftliche Tendenz, sich bei leichten Beschwerden ärztlich abklären lassen zu wollen.
Was mich aber besonders erstaunt: Obwohl sehr viele Informationen über Krankheiten und Krankheitssymptome für jeden zugänglich sind, herrscht eine zunehmende Unsicherheit, wie diese eingeschätzt werden müssen. Vielleicht kennen Sie es ja selber: Dauert der Husten mehr als ein paar Tage, hat man bereits das Gefühl, an einer Lungenentzündung zu leiden – dabei kann ein grippaler Infekt schnell mehr als zwei Wochen dauern, ein Husten sogar noch länger. Die meisten Infekte sind durch Viren verursacht und brauchen Zeit – sicher aber keine Antibiotika.