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Corona: Isolations-Tipps von einem Autisten

Durch die Corona-Pandemie und den von Regierungen verhängten kollektiven Hausarrest wird der Lebensstil von Autisten plötzlich zur Norm.

Heute Redaktion
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Vor wenigen Monaten habe ich hier über meine späte Diagnose mit Asperger und ADHS berichtet. Nun möchte ich ein paar Tipps teilen, weil ich eines bemerkt habe: Für den Lebensttil von Autisten ändert sich gerade nicht besonders viel.

Viele Autisten achten immer darauf, sich häufig die Hände zu waschen (gelegentlich zwanghaft), sich zu desinfizieren, Menschen nicht zu berühren (außer vertraute Personen) und große Massen zu meiden.

Aus diesem Grund habe ich beschlossen, diese Perspektive zu teilen.

Ich habe für gewöhnlich nicht mehr als zwei bis drei soziale Treffen pro Woche mit meinen liebsten Menschen, da es mir sonst zu viel Energie abverlangt, wenn ich meine Batterien nicht laden kann. Nach der Arbeit gehe ich ungern noch in Geschäfte, wo ich Schwierigkeiten habe, sowohl mit visueller Reizüberflutung durch die grellen Lichter, als auch den Menschen, die sich schneller bewegen, als ich darauf reagieren kann, wie auch dem Lautstärkepegel. Stattdessen bestelle ich fast alles, was ich brauche, online. Das Stadtleben erlebe ich als täglichen Parcour. Sirenen von Rettungswägen und Polizeiautos erschrecken mich regelmäßig.

Routine bietet Sicherheit

Wenn Autisten gut in etwas sind, dann ist es sich Routinen zu erstellen. Denn sie bieten Sicherheit. Für uns ist die Welt da draußen ein großer Raum der Unsicherheit, weil an jeder Ecke eine Überraschung lauert. (was nur meine ADHS-Seite in geringen Dosen toll findet) Deswegen ist der erste Tipp sich eine geregelte Routine zu erstellen und so viel wie möglich von dem zu bewahren, was man auch sonst getan hätte. Wenn man sich beispielsweise im Homeoffice befindet, sollte man sich so kleiden, wie man es gewohnt ist, und die Arbeitssituation so normal gestalten wie sonst auch. Auch Essenszeiten sollte man sich wie bisher einteilen. Alle Schritte, die im normalen Alltag getätigt würden - abgesehen vom Schritt vor die Tür.



Interessen bieten Unterhaltung


Autisten haben spezielle Interessen, auf die sie sich über Stunden am Stück fokussieren können. Sich nicht nur vor Netflix und Youtube zu setzen, sondern sich bewusst seine Zeit zu gestalten und zu erkennen, dass man gerade über das Bewusstsein von Limitierung von Zeit ein Bewusstsein für die Wichtigkeit von Zeit erhält, ist wesentlich. Wenn man beispielsweise eine Beschäftigung hat, die man schon lange gerne wieder ausüben würde, dann ist jetzt viel Zeit dafür vorhanden. Genauso kann man sich auch neue Skills aneignen, neue Sprachen lernen usw. Menschen lernen nun wieder sich selbst zu beschäftigen und kreativ zu werden, wenn sie keine Alternativen und Ablenkungen haben.

Hygiene erhält Gesundheit

Wir alle achten nun vermehrt darauf uns selbst und andere zu schützen. Einkaufen wird in nächster Zeit nur in kleinen Ansammlungen möglich sein. Für Autisten ist es normal Distanz zu halten und die Luft anzuhalten, sobald jemand im Raum niest.

Dein Zuhause, dein Palast

Für Autisten und ADHSler ist das Zuhause ein heiliger Ort, an dem sie zur Ruhe kommen, sich von Reizen isolieren können und wo sie auch nicht jeden einladen, sondern nur den engsten Kreis. Wenn du dich bisher nicht wohl zuhause gefühlt hast oder dich nicht mit der Gestaltung deiner vier Wände auseinandergesetzt hast, kannst du das jetzt tun. Auch ohne eine große Portion Ordnungszwang sollte die Eigeninitiative bestehen sich hier so wohl wie möglich zu fühlen. Immerhin vernachlässigen wir die Heimat, die wir geschaffen haben, gerne.

Körperliche Nähe ist nicht "casual"

Dass nicht oder wenig bekannte Menschen sich Wangenküsse geben, fand ich schon immer befremdlich. Körperliche Nähe ist für mich die größte Form von Intimität, die ich mir nur für besondere Menschen aufbewahre.

Zeitverschwendung beim Dating



Enge Bindungen werden nun auf einmal wieder in - wie es sich immer beim Aufkommen einer Krisensituation beweist. Die meisten Autisten mögen ohnehin kein Casual Dating. Sie suchen sich lieber Seelenverwandte. Moderne Dating-Formen und Casual Dating habe ich auch nie verstanden. Für lange Tinder-Chats und kurze Treffen mit Personen, mit denen man sich oberflächlich unterhält, war mir die Zeit zu wertvoll. Menschen erkennen nun langsam, dass lose Kontakte wenig bringen, wenn es darauf ankommt. (so wie jetzt)

Der Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinsein

Autisten fühlen sich selten alleine - immer nur dann, wenn sie sich unverstanden fühlen, nicht aber wenn mangelnder Körperkontakt besteht. Einsamkeit ist für Autisten also der Mangel an sozialen Kontakten, mit denen ein richtiger geistiger Austausch stattfinden kann, wo man über Ideen, Interessen und Leidenschaften spricht. Smalltalk ist für uns eher anstrengend.



Autisten sehen alles rational


So sehr Autisten unbekannte Situationen mit angstvoller Panik begrüßen (vor allem wenn sie kein ADHS haben) oder das große Unbekannte zu Zusammenbrüchen führen kann, berechnen sie alle möglichen Ausgänge nach Standards der Wissenschaft und der Vernunft. In dieser aktuellen Situation heißt das, dass es eine mathematische Berechnung der Verbreitung des Coronavirus gibt und gewisse Risiken, die durch Maßnahmen der Regierung vermindert werden können. Das sollte uns schon ein wenig beruhigen. Denn wir alle haben jetzt die Chance und die Verantwortung als Bürger einen Beitrag zum bestmöglichen Ausgang aus der Lage für die Gemeinschaft zu leisten.

Autisten haben Empathie, nur keine gespielte

Wo wir auch schon beim nächsten Thema wären: Gerechtigkeit ist für Autisten der größte Antrieb neben ihren vielschichtigen Interessen. Das sehen wir etwa beim prominentesten Beispiel Greta Thunberg, die sich den Mund nicht verbieten lässt, wenn sie etwas ungerecht findet. Gerechtigkeit bedeutet auch immer eine gesellschaftliche Gleichberechtigung. Der Hashtag #nachbarschaftshilfe zeigt, was jetzt möglich ist. Wir lernen gerade eine neue Achtsamkeit im Miteinander.

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