Künstliche Intelligenz revolutioniert gerade diverse Berufsfelder. Jetzt soll das auch im Schweizer Gesundheitswesen geschehen: Das Unternehmen AlpineAI und die Health Info Net AG (HIN) entwickeln gemeinsam einen KI-Standard, der künftig von allen Ärzten in der Schweiz genutzt werden soll. AlpineAI-CEO Pascal Kaufmann erklärt im Interview mit "20 Minuten", was sie sich davon erhoffen.
Herr Kaufmann, ein KI-Standard für Ärzte klingt erst einmal unspektakulär. Was kann Ihre KI?
Schon heute kommunizieren über 90 Prozent aller Gesundheitsfachpersonen in der Schweiz über HIN. Wir von AlpineAI verfügen über datenschutzkonforme KI-Technologien, komplett unabhängig von den USA und China. Gesundheitsdaten gehören zu den intimsten und sensibelsten Daten überhaupt, darum ist das wichtig. Mit Schweizer KI wollen wir in erster Linie Ärzte so weit wie möglich von administrativen Aufgaben befreien, damit diese sich auf das Wesentliche konzentrieren können: die Behandlung der Patientinnen und Patienten. Wir sollten engagierte und teuer ausgebildete Fachkräfte nicht mit Bürokratie belasten und so demotivieren, wenn wir die Technologie haben, die vieles autonom erledigen kann.
Künftig sagt mir also nicht die KI, woran ich leide, wenn ich zum Arzt gehe?
Auch künftig wird ein Arzt aus Fleisch und Blut Sie behandeln. Er wird dabei aber in der Zukunft unterstützt von einer KI, etwa bei der Untersuchung Ihres Gesundheitszustands oder bei der Diagnose. Die KI greift auf alle aktuellen Forschungsergebnisse und Behandlungsrichtlinien zurück und soll dem Arzt so helfen, ein kompletteres Bild über Ihren Gesundheitszustand zu erhalten.
Wie sieht die Unterstützung bei der Diagnose durch die KI genau aus?
Eine komplexe Krankengeschichte, die teils aus Hunderten Seiten Text, Bildern und Daten bestehen kann, kann innert Sekundenbruchteilen analysiert werden. Fragen des Arztes können in Echtzeit beantwortet werden; Lücken oder besondere Themen, die jetzt gerade relevant sind, können automatisiert vom "HIN Swiss HealthAssist" angezeigt werden. Auch Anbindungen an bestehende Informationssysteme sind möglich, sodass das Patientengespräch direkt an den richtigen Stellen in der Krankenakte dokumentierbar ist. Der Arzt benötigt nur noch einen Bruchteil der Zeit für Administration, während er sich rascher einen Überblick verschaffen kann.
Kennt die KI bald meine ganze Krankheitsgeschichte?
Nein. Weder HIN noch AlpineAI sammeln Patientendaten, es wird nur gespeichert, was unbedingt notwendig ist. In Zukunft könnten etwa speziell auf das schweizerische Gesundheitswesen zugeschnittene Informationen zusätzlich zur Verfügung gestellt werden. Diese Inhalte werden von Ärzten und Sachverständigen für andere Gesundheitsfachpersonen erstellt.
Wie konkret kann der Arzt denn entlastet werden, wenn die KI keinen Zugriff auf meine Patientendaten hat?
Ärzte, die SwissGPT seit fast zwei Jahren nutzen, berichten von Zeitersparnis von bis zu 80 Prozent bei der Erstellung von Patienten-Protokollen, bei komplexeren Berichten von bis zu 50 Prozent. KI extrahiert beispielsweise direkt aus Gesprächen relevante Informationen und pflegt diese in das Patientendossier ein. Für die Ärzte bedeutet das: erhöhte Effizienz, verbesserte Patientenversorgung und Reduzierung von Stress. Dazu sollen auch die Kosten im Gesundheitswesen gesenkt werden.
Ich bezahle dank Ihrer KI also bald weniger Krankenkassen-Prämie?
Dies können wir leider nicht beeinflussen. Die tatsächlichen Einsparungen hängen von vielen Faktoren ab. Etwa von der Qualität der Daten, der Komplexität der Krankheiten und natürlich von der Effektivität der KI. Einige Schätzungen gehen davon aus, dass KI das Potenzial hat, die Gesundheitskosten in der Schweiz um 10 bis 15 Prozent zu senken.
Was passiert, wenn die KI einen Fehler macht? Wer haftet?
Dem Arzt ist bewusst, dass KI als Werkzeug nur eine Unterstützung ist. Die Gesundheitsfachperson steht gegenüber ihren Patienten in der Verantwortung, egal, ob KI angewendet wurde oder nicht. Die Verantwortung trägt immer der Mensch, nicht die KI oder sonst ein Werkzeug.
"Heute nutzen Ärzte oft ChatGPT"
Lucas Schult, Geschäftsführer von HIN, sagt, dass Ärzte und Patienten schon heute zunehmend ChatGPT und andere KI-gestützte Lösungen einsetzen. "Falls Fachkräfte sensible Daten in diese Chatbots speisen, könnte der Datenschutz verletzt werden. Leider sind solche Fälle nicht auszuschließen, weil es bislang zu wenig Alternativen zu US-Systemen gab. Genau hier wollen wir jetzt Abhilfe schaffen."
Dass Patienten ihre Gesundheitsfragen erst einer KI geben, sei zwar hilfreich, weil sie so bereits mit spezifischen Fragen und Anliegen zum Arzt könnten. "Im Vergleich zu Google erlauben GPT-basierte Systeme den Dialog, reagieren auf Nachfragen und erklären Sachverhalte verständlich." Aber: "ChatGPT und andere KI-gestützte Lösungen sind kein Ersatz für eine professionelle medizinische Diagnose."
Schon heute fragen viele Menschen bei gesundheitlichen Problemen erst einmal eine KI, womöglich gehen sie danach gar nicht mehr zum Arzt. Könnte dereinst das ganze Telemedizin-System durch KI ersetzt werden?
Es gibt sicher auch in der Telemedizin spannende Anwendungsfälle für unsere KI. Eine Selbstdiagnose oder Selbstmedikation der Patientinnen und Patienten mit einem "KI-Doktor" wäre zwar technisch umsetzbar, die rechtlichen und gesellschaftlichen Implikationen wären allerdings problematisch. Der Mensch soll immerzu die Entscheidungen fällen, und das Werkzeug soll die Fachkraft unterstützen, mehr nicht.
KI soll also nie medizinische Entscheidungen treffen?
Nein. Ein Werkzeug entscheidet nicht. Das ist Sache des Arztes. Der Faktor Mensch gewinnt im Zeitalter der KI an Bedeutung, da dieser sich von Routinearbeiten befreien und auf das Wesentliche konzentrieren kann.