Ukraine

Die Uhr tickt – jetzt geht es für die Ukraine um alles

Es gibt Bewegung in der "Frühjahrsoffensive". Wo stehen Russland und die Ukraine, wo sind Stärken und Schwächen? Der ultimative Überblick.

Ukrainische Soldaten der 10. Gebirgsjägerbrigade "Edelweiß" beim Abfeuern einer D-30 Haubitze im Mai 2023.
Ukrainische Soldaten der 10. Gebirgsjägerbrigade "Edelweiß" beim Abfeuern einer D-30 Haubitze im Mai 2023.
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Es gab keine Fanfaren oder Ansprachen, aber in dieser – letzten – Maiwoche fiel angeblich der Startschuss zur lange erwarteten "Frühjahrsoffensive": Die ukrainische Gegenoffensive laufe "seit Tagen", sagte der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak im italienischen Fernsehen.

Via Twitter (siehe Beitrag unten) vermeldete er, die Offensive sei "kein singuläres Event, das an einem spezifischen Tag zu einer spezifischen Uhrzeit mit dem feierlichen Durchschneiden eines roten Bandes beginnen" werde. Aber: seit mindestens 24. Mai 2023 würden verstärkt militärische Aktionen gesetzt.

Der überraschende Überfall russischer Partisanen der "Legion Freiheit Russlands" auf die Grenzregion Belgorod schien Podoljak recht zu geben.

Tatsächlich hat die Ukraine mit der Vorbereitung der Offensive schon vor Wochen begonnen: Sie greift auf russischem Boden Luftwaffenbasen und Tanklager an, nimmt Eisenbahnlinien ins Visier, welche die Streitkräfte versorgen, stört im Grenzgebiet, lotet Schwächen in der gegnerischen Verteidigungslinie aus. Das ukrainische Vorgehen in dieser ersten Offensivphase entspricht ganz dem militärischen Lehrbuch.

Doch es ist die entscheidende zweite Phase, in der es für die Ukraine um alles geht – gegen einen eigentlich übermächtigen Gegner. Kann sie siegen, und was muss sie dafür tun? Das Schweizer Nachrichtenportal "20 Minuten" hat dazu mit Militär- und Sicherheitsanalysten gesprochen und auch Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer genau zugehört.

Markus Reisner

... ist Offizier des österreichischen Bundesheeres und kommandiert im Rang eines Oberst die Garde in Wien. Er hat in Geschichte promoviert und ist Leiter der Entwicklungsabteilung der Militärakademie in Wiener Neustadt. International bekannt wurde er mit Youtube-Videos über die militärische Lage in der Ukraine.
Mehr Artikel zu Oberst Reisner:
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Diese Experten-Rundschau liefert Antworten auf die brennendsten Fragen in diesem Konflikt:

Wieso ist die Gegenoffensive für die Ukraine wichtig?

Ziel der Offensive ist ein entscheidender ukrainischer Erfolg in der Rückeroberung der russisch besetzten Gebiete. Die große Hoffnung ist es: Man bringt Moskau so zur Einsicht und an den Verhandlungstisch. Ein Etappenziel wäre, dass die Ukraine den starren Verlauf in eine beweglichere Kriegsführung führen kann.

"Die gegenwärtige Phase zielt darauf ab, den Gegner zu schwächen, zu täuschen und zu verwirren", so ETH-Militärexperte Marcel Berni. "In einer zweiten Phase, die noch nicht begonnen hat, soll so ein Durchstoß erleichtert werden. In einer dritten Phase soll dann das gewonnene Gelände gehalten und verteidigt werden."

Marcel Berni

... forscht und lehrt seit 2014 als wissenschaftlicher Assistent an der Schweizerischen Militärakademie der ETH Zürich. 2019 promovierte er mit einer Arbeit über kommunistische Gefangene im Vietnamkrieg an der Universität Hamburg. Seit 2022 vertritt er die Dozentur Strategische Studien in Forschung und Lehre.

Wann beginnt die entscheidende Phase?

Um es salopp zu sagen: Wenn wir die ersten Aufnahmen von Leopard- und Challenger-Panzern an der Front sehen. Und das kann dauern: "Die entscheidende zweite Phase kann auch erst in ein paar Wochen oder Monaten beginnen", sagt Oberst Markus Reisner.

"Die Uhr tickt für die Ukrainer", sagt dagegen Sicherheitsanalyst Shashank Joshi. Je länger sie warten würden, umso mehr Zeit hätten die russischen Truppen, ihre Logistik auszubauen, Schäden zu reparieren und sich noch weiter einzugraben.

Shashank Joshi

... ist der Militär- und Sicherheitsanalyst der Wochenzeitung "The Economist". Davor war er Senior Research Fellow am Royal United Services Institute (RUSI) und Research Associate am Changing Character of War Programme der Universität Oxford.

Wo an der Front ist Russland nervös?

Dort, wo die größen Befestigungen entstehen: Vor allem im südöstlichen Teil der Region Saporischschja sind gut ausgebildete russische Truppen stationiert. Denn ein erfolgreicher ukrainischer Vorstoß im Süden würde erlauben, …

... den Landkorridor, der die Krim mit der Ukraine verbindet, zu durchbrechen.
... den Zugang zum Asowschen Meer wiederherzustellen.
... die Kerch-Brücke in Reichweite ukrainischer Raketen zu rücken.
... zu gefährden, was für Moskau am wichtigsten ist: die Kontrolle über die Krim.

Auch die Ostukraine und der Bereich der Landenge, welche die annektierte Krim mit der Ukraine verbindet, bieten sich für einen Einsatz an. Echte Informationen werden aber bis zur letzten Sekunde geheimgehalten, damit Russland möglichst nicht reagieren kann.

In den kommenden Wochen dürfte es an der fast 1.500 Kilometer langen Front aber an verschiedenen Stellen zunächst Scheinangriffe geben, um dann an anderer Stelle umso geballter durchzustoßen.

Doch was sind die Stärken und Schwächen der beiden Kriegsparteien? Wer hat wo die Überhand und welcher Faktor könnte vielleicht kriegsentscheidend sein? Eine Übersicht:

Stärken und Schwächen Russlands

Numerische Überlegenheit: Russland verfügt über 830.900 aktive Soldaten, die Ukraine über 200.000 (Feb. 2023), also gut vier Mal weniger. Allerdings seien einige russische Einheiten stark geschwächt und "nur zu 60 oder 50 Prozent einsatzbereit", so Sicherheitsanalystin Dara Massicot vom Rand-Thinktank. Dazu kommt, Putin kann nicht alle Soldaten in die Ukraine schicken, sonst blieben die Grenzen seines riesigen Landes ungeschützt.

Dara Massicot

... ist Politikforscherin bei der RAND Corporation und Professorin im Programm für Sicherheitsstudien der Georgetown University. Sie war zuvor als leitende Analystin für russische Militärstrategie und -fähigkeiten im US-Verteidigungsministerium tätig.

Viel dazugelernt: Die Russen verbergen ihre Panzer und Munitionsdepots inzwischen besser vor Drohnen- und Satellitenaufklärung. Auch das Pionierwesen (Verminung, Feldbefestigung) wurde verstärkt. Die Artillerie ist beweglicher geworden, kann so gezielter angreifen und sich besser vor Gegenschlägen schützen. Die Luftwaffe bleibt im sicheren Hinterland, feuert von dort Langstreckenraketen ab.

Und: Man setzt auf iranische Kamikaze-Drohen, die in der Ukraine Angriffe bis Kiew fliegen.

Eingegraben: Die russischen Truppen haben sich mit Artillerie, Gräben, Panzersperren und Minen eingegraben, ähnlich wie im 1. Weltkrieg. Das macht ukrainische Durchbrüche enorm schwierig. So zwingt Russland der Ukraine einen Stellungskrieg auf, der enorme Abnützung auf beiden Seiten zur Folge hat.

Vorteile nutzen: Im so auferzwungenen Stellungskrieg kann Russland seine Stärken ausspielen: den Einsatz von massiven Artilleriewaffensystemen und Raketenwerfern. Aufgrund ihres riesigen Sowjetarsenals haben sie weitaus mehr Kanonen und auch Munition zur Verfügung.

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    Mehrere Reihen von Betonblöcken ziehen sich mittlerweile kilometerweit durch den Osten der Ukraine.
    Mehrere Reihen von Betonblöcken ziehen sich mittlerweile kilometerweit durch den Osten der Ukraine.
    Screenshot RIAFAN

    Moral: Von den Stärken zu Schwächen. Die Moral hat einen ordentlichen Dämpfer erhalten. Die Verluste der Russen und Ukraine waren und sind enorm. Die Reservisten haben nicht die Erfahrung von Berufssoldaten und wissen vielfach nicht, was sie an der Front eigentlich tun sollen.

    Reservistenkrieg: "Wir haben auf beiden Seiten Soldaten, die man beschreiben kann als den 40-jährigen Familienvater, der an die Front geschickt worden ist, mit einer mehr oder weniger guten Ausbildung", so Oberst Markus Reisner.

    Ehrensalut beim Begräbnis von 60 russischen Soldaten auf einem Friedhof im russisch-kontrollierten Luhansk am 18. Mai 2023.
    Ehrensalut beim Begräbnis von 60 russischen Soldaten auf einem Friedhof im russisch-kontrollierten Luhansk am 18. Mai 2023.
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    Zentralismus: Russlands Armee agiert zentralistisch und damit eher träge: "Es ist nicht erwünscht, dass jemand selbstständig agiert, wenn es darum geht, größere Verbände zu führen", sagt Oberst Reisner. Die ukrainischen Streitkräfte dagegen werden nach NATO-Standard geschult: Verstehen, was das übergeordnete Kommando will und es durch freies Ermessen am Boden umsetzen.

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      Seit dem 1. August 2022 tobt eine erbitterte Schlacht um die ostukrainische Stadt Bachmut.
      Seit dem 1. August 2022 tobt eine erbitterte Schlacht um die ostukrainische Stadt Bachmut.
      REUTERS

      Stärken und Schwächen der Ukraine

      Moral: Die hohe Moral und Opferbereitschaft des angegriffenen Landes steht im großen Gegensatz zur russischen Seite, wo viele Soldaten diesen Krieg gegen die einstige Brudernation wohl gar nicht wirklich führen wollen.

      Westliche Hilfe: Die kontinuierliche moderne westliche Militärhilfe ist maßgeblich für die Ukraine. Die Abhängigkeit ist zweischneidig. So gibt Marcel Berni von der ETH zu Bedenken: "Dieser Faktor kann aber auch eine Schwäche sein, nämlich dann, wenn der westliche Strom an Unterstützung versiegen sollte."

      Taktisches Geschick: Im Westen wurden zwischen 40.000 und 60.000 Mann für die offensive Bewegungskriegsführung geschult. Das taktische Geschick der Ukraine beim Einsatz unterschiedlicher Waffensysteme lässt Beobachter vorsichtig optimistisch sein.

      Numerische Unterlegenheit: Die Ukraine ist dem russischen Imperium in zahlreichen Bereichen quantitativ unterlegen. Auch für die Ukraine gilt: Der Krieg wächst sich zu einem "Reservistenkrieg" aus. Ein 35-Millionen-Volk (minus Geflüchteten) steht in der Ukraine 140 Millionen Russen gegenüber.

      Fehlende Jets: "Die schwerwiegendste militärische Schwäche ist ihre Unterlegenheit im Luftkrieg – deshalb auch die aktuellen Forderungen nach F-16 Kampfjets", so ETH-Militärexperte Marcel Berni.

      Was ist mit den F-16-Jets?

      Vorerst mal gar nichts. Die Ukraine setzt große Hoffnungen in die modernen Flugzeuge. Doch die Ausbildung ist lang, die Wartung teuer und zahlenmäßig sind die Ukrainer den Russen in der Luft ohnehin unterlegen. 

      Hinsichtlich der Gegenoffensive wäre aber die Frage: Will die Ukraine abwarten, um auf die Fähigkeiten der Jets zurückzugreifen, oder riskiert die Offensive und setzt sie die Jets später beim Abwehrkampf in der Tiefe gegen Russland ein?

      Von der Mig-29 oder SU-24 auf eine F-16 umzusteigen, ist Oberst Markus Reisner zufolge, als ob man "von einem Lada auf einen Tesla" umsteigt. Eine Lieferung an die Ukraine steht noch nicht an. Experten gehen von vier bis sechs Monaten aus, bis die ukrainischen Piloten die F-16 gesteuert und ihre Waffen einsetzen können.

      Anders als Anfang Jahr hat sich mittlerweile eine Koalition für Lieferung des Kampfjets gebildet. Polen, die Niederlande, Belgien und Dänemark wollen ukrainische Piloten ausbilden, auch Großbritannien zeigt sich bereit. In den USA wird die Frage noch kontrovers diskutiert. Der F-16-Jet ist das am meisten verbreitete Kampfflugzeug der Welt: Er macht 15 Prozent der weltweiten Flotte aus.

      Wird aus der Frühlings- eine Herbstoffensive?

      Das ist nicht völlig ausgeschlossen. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski machte deutlich, dass es keine Eile gebe. Taktik? Seine Truppen wurden von den USA extra auf den Überraschungsmoment geschult. Deswegen ist es sinnvoll, Moskau im Unklaren zu lassen, wie es um die wichtigste Phase der Gegenoffensive steht. Die ukrainische Seite habe viele Gründe, geduldig zu sein, sagt Sicherheitsanalyst Shansank Joshi und fasst zusammen:

      Lange erste Offensivphase: Es wird schon so lange mit dieser Offensive gerechnet, dass die Ukraine unter Druck ist, ein Überraschungselement zu finden. Das aber setzt viele einleitende Operationen voraus. Sie sollen für Verwirrung sorgen, welche der entscheidende Vorstoß ist.

      Mehr Ausbildung: Die ukrainischen Soldaten brauchen mehr Zeit, um mit den neuen Geräten vertraut zu werden. Das letzte Bataillon im US-Training beendet eben jetzt seinen Kurs. Die Einweisung der ukrainischen Truppen in Abrams-Panzer steht noch aus. Über 30 Nationen beteiligen sich an den Ausbildungsprogrammen.

      Wetter: Im Gegensatz zum Osten ist der Boden im Süden nach dem regenreichen Frühling auch jetzt noch nicht so trocken, dass Panzerfahrzeuge leicht manövrieren können. Hier haben die Russen einen Vorteil, denn ihre Kampfpanzer sind durchschnittlich leichter als etwa der moderne Leopard 2 aus Deutschland. Damit bleiben sie auch weniger leicht im Schlamm stecken.

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        Stillgelegte "Panzer 87" vom Typ Leopard 2A4 WE der Schweizer Armee in Detailaufnahmen.
        Stillgelegte "Panzer 87" vom Typ Leopard 2A4 WE der Schweizer Armee in Detailaufnahmen.
        VBS/DDPS; CC BY-NC-ND

        Wird Russland auf die ukrainische Gegenoffensive antworten?

        Nicht mehr in diesem Jahr. Aber im kommenden Jahr, mit frischen, neu formierten Einheiten. "Es ist davon auszugehen, dass der Krieg noch viel mehr Opfer fordern und lange dauern wird", sagt nicht nur Oberst Markus Reisner. Die Gründe dafür sind grundsätzlich die gleichen geblieben wie vor über einem Jahr: Trotz aller ukrainischer Hoffnungen – Russland ist langfristig weiter im Vorteil.

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          "Heute"-Montage, Material APA-Picturedesk