Ukraine

Experte: "Intensivste und verlustreichste Gefechte"

Wie steht es aktuell um die groß angekündigte Gegenoffensive der Ukraine? Roland Popp von der Militärakademie an der ETH Zürich weiß mehr darüber. 

20 Minuten
Ein toter russischer Soldat in der umkämpften Region Donbas im Osten der Ukraine. 
Ein toter russischer Soldat in der umkämpften Region Donbas im Osten der Ukraine. 
REUTERS

Seit geraumer Zeit läuft nun bereits die ukrainische Gegenoffensive, die schon vor Monaten angekündigt wurde. Beide Kriegsparteien vermelden Erfolge, im Internet kursieren unterschiedlichste Videos und Einschätzungen der Gesamtlage an der Front. Wer blickt da noch durch? Wie sieht es in der Frühphase wirklich aus? Dazu hat das"Heute"-Partnerportal "20 Minuten" Roland Popp von der Militärakademie an der ETH Zürich befragt. 

Herr Popp, wo steht die Gegenoffensive derzeit?

Es sieht so aus, als seien dies die intensivsten und verlustreichsten Gefechte dieses Krieges. Es muss fast so sein, wenn man sich die aktuellen Konstellationen ansieht. Gleichzeitig haben wir ganz wesentliche Informationen nicht, die Verlustzahlen, die Rekrutierungs- und Mobilisierungszahlen. Über allem liegt der Nebel des Krieges – mit gezielten Fehlinformationen von allen Seiten.

"Wären sie hier erfolgreich und würden Melitopol erreichen, wäre ich persönlich überrascht."

Lassen sich in dieser frühen Phase Tendenzen ablesen?

Man kann nicht wirklich erkennen, was los ist. Was zumindest mich überraschte: Es wurden jetzt wirklich vertiefte Operationen durchgeführt, genau in dem Bereich, wo sich die Russen am stärksten befestigt haben. Hier laufen die Ukrainer mit ihrer Offensive in denjenigen Frontabschnitt hinein, der ihnen wahrscheinlich die größten Probleme bereitet. Wären sie hier erfolgreich und würden Melitopol erreichen, wäre ich persönlich überrascht. Aber eben: Ob die Hauptstoßrichtung der Offensive – und die haben wir wohl noch nicht gesehen – nach Süden Richtung Asowsches Meer geht, ist noch nicht ausgemacht.

Welche Waffen setzt die Ukraine jetzt an der Front ein?

Gesehen haben wir nun relativ moderne westliche Systeme, etwa Panzer wie den deutschen Leopard 2A4 und 2A6 und amerikanische Bradley-Schützenpanzer, aber noch keine britischen Challenger 2. Wenn ich es richtig verfolgt habe, sind bisher drei der neun für die Offensive aufgestellten ukrainischen Brigaden in Erscheinung getreten. Das heißt, da sind noch viele in der Rückhand. Eben: Die Offensive beginnt erst. Die ganzen Meldungen über Geländegewinne von beiden Seiten kann man getrost nicht ernst nehmen.

Man liest vom hohen Blutzoll der Ukrainer. Inwiefern sind diese Informationen verifizierbar?

Sie sind es nicht. Aber wenn man solche befestigten Stellungen frontal angeht, dann sind die Verluste zwangsläufig hoch.

"Das ist eine Respektlosigkeit gegenüber den Leuten, die da gerade Fürchterliches durchleiden."

Lässt sich das in diesem Internet- und Satellitenbilderkrieg nicht näher umreißen?

Wir haben ein paar Videos gesehen – auch da würde ich zur absoluten Vorsicht raten – mit Beispielen ukrainischen und russischen taktischen Versagens. Es sind oft alte Videos, die bewusst lanciert werden und bei denen wir den Kontext nicht kennen. Sie zeigen etwas, das teils sehr amateurhaft aussieht, es aber nicht unbedingt ist. Es gibt alle möglichen Erklärungen dafür, warum es auf einem Gefechtsfeld chaotisch aussehen kann. Umso mehr nervt, wenn irgendwelche Leute, meist ohne jede eigene militärische Erfahrung und in keiner Weise selbst kampffähig, aus ihren Sesseln von zu Hause aus sich über das taktische Versagen von Truppenführungen mokieren. Das ist eine Respektlosigkeit gegenüber den Leuten, die da gerade Fürchterliches durchleiden.

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    Ein ukrainischer Leopard 2A4 Kampfpanzer soll bei einer Offensive im Bereich Mala Tokmatschka in der Oblast Saporischschja von russischer Artillerie zerstört worden sein. (8. Juni 2023)
    Ein ukrainischer Leopard 2A4 Kampfpanzer soll bei einer Offensive im Bereich Mala Tokmatschka in der Oblast Saporischschja von russischer Artillerie zerstört worden sein. (8. Juni 2023)
    Russisches Verteidigungsministerium