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Asperger, eine "Superkraft mit Nebenwirkungen"

Zwei bekannte britische Youtuber erzählen, wie sie trotz – oder gerade wegen – ihres Autismus durchstarteten.

Heute Redaktion
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Kürzlich hat unsere Autorin an dieser Stelle beschrieben, wie ihr Asperger-Syndrom ihr Leben prägt. Fazit: "Mein Asperger, gepaart mit meinem ADHS, ist für mich gleichzeitig Superkraft und Kryptonit. Es hilft mir, über mich hinauszuwachsen, und wirft mich gleichzeitig komplett aus der Bahn."

Eine ganz ähnliche Geschichte erzählen der britische Youtuber Daniel M. Jones und die Tattoo-Artistin Charl Davis. Daniel hat gerade die 100.000 Follower-Marke auf Youtube überschritten. Charl erlangte durch die Sendung "Just tattoo of us" in England große Bekanntheit. Beide sprechen offen über ihren Autismus.

"Heute.at" hat mit ihnen über ihre Erfahrungen gesprochen.

Aus der Not eine Tugend gemacht

Online kennt man ihn bereits als "den Typen mit Asperger". In seinem persönlichen Umfeld erzählt Daniel jedoch nicht jedem von der Diagnose. Zu häufig hat er die Erfahrung gemacht, dass Menschen nichts mit der Information anfangen können, oder – noch schlimmer – sie für eine Ausrede halten.

Zum Zeitpunkt der Diagnose war Daniel 26 Jahre alt. Zwei Jahre hatte er davor in einem Unternehmen gearbeitet, wo er unter Reizüberflutung litt und sich nicht erklären konnte, woher die Dauerüberlastung kam. Daraufhin suchte er mehrere Ärzte auf, bis er schließlich die Diagnose erhielt: Asperger und ADHS.

Man riet ihm, sein Arbeitspensum von fünf auf zwei Tage pro Woche herunterzuschrauben. Das spürte er zunächst vor allem im Portemonnaie. Dann jedoch nutzte er die neu gewonnene Freizeit, um einen Youtube-Kanal zu erstellen, auf dem er über das Asperger-Syndrom informiert. Dies, weil er bei seiner eigenen Suche nach Informationen immer wieder auf Lücken gestoßen war, die niemand zu füllen wusste.

Charl ist ebenfalls eine britische Influencerin, bekannt durch ihre TV-Show "Just tattoo of us". Auch sie wurde Mitte der Zwanziger diagnostiziert. Damals befand sie sich in einer Phase, wo sie die Kapazitäten ihrer geistigen Gesundheit aufgebraucht glaubte.

Zu dieser Zeit bekam sie das Angebot, bei MTV als Tattoo Artist zu arbeiten. Im Zuge der Vorbereitungen für die Show stand bei der Produktionsfirma auch ein Psychologe zur Verfügung, den man aufsuchen konnte. So erhielt Charl schließlich eine Erklärung dafür, warum sie sich in vielen Situationen so schwertat. Warum sie immer häufiger Zusammenbrüche erlitt.

Vulkanausbrüche

Hypersensitivität, die oft mit dem Asperger-Syndrom einhergeht, verstärkt die vorhandenen und aufgenommen Gefühle um ein Vielfaches. Nach außen hin kann das wirken, als wäre man überdramatisch. „Dabei ist es eine Schmerzerfahrung", stellt Charl klar.

Emotionen zu regulieren, fällt ihr im Alltag schwer. Geräusche wie Klingeltöne bringen sie leicht aus der Fassung. Reihenfolgen und Strukturen, die für andere selbstverständlich sind, verarbeitet sie nur mit Mühe. „Sich eine Tasse Tee zu machen bedeutet schon eine Herausforderung und hohe Konzentration." Charl erinnert sich daran, wie sie vor der Diagnose oft in Phasen des Selbsthasses versank, weil sie sich aus Scham in solchen Situationen sozial isolierte.

Auch Daniel kennt solche Situationen gut. Er sieht seine Zusammenbrüche mittlerweile kommen – „abwenden kann ich sie dann jedoch nicht mehr". Plötzlich kann er sich nicht konzentrieren und fühlt sich extrem nervös und aufgeregt. Ein Schneeball-Effekt tritt ein.

Für gewöhnlich sprechen Autisten nicht offen über ihre Gefühle, aber in dem Moment brechen diese wie ein Vulkan aus. Zurück bleibt eine ausgelaugte Leere. Dann ist es am besten, alles stehen und liegen zu lassen und sich in einen Zustand zu versetzen, in dem man zur Ruhe kommen kann. „Ich setze mich dann immer mit einem Interessensgebiet auseinander, schaue zum Beispiel eine Dokumentation an."

Das ist jedoch nicht immer möglich. Im Arbeitsalltag profitieren sowohl Daniel als auch Charl von ihrer Selbstständigkeit. Charl hat sich in ihrem Studio einen Raum eingerichtet, in den sie sich zurückziehen kann, wenn der Trubel zu groß wird. „Reizisolation" nennen das die Fachleute.

Asperger-Frauen bleiben oft unerkannt

Nur zwei von zehn diagnostizierten Personen sind Frauen. Die Kriterien für eine Diagnose basieren auf den männlichen Eigenschaften, die weiblichen Ausprägungen und Unterschiede sind noch zu wenig untersucht.

Auch neigen Frauen eher zum „Masking" – das heißt, sie maskieren, verstecken die autistischen Eigenschaften, um in der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Charl sagt dazu: „Ich würde behaupten, dass ich sehr gut darin bin – so gut, dass auch Experten es nicht als Merkmal identifizieren können, was den Prozess der Diagnose natürlich erschwert."

Knoten im Magen, Flasche verfehlt

Auch wenn Charl als Tattoo-Artistin in der Öffentlichkeit steht, fällt es ihr schwer, vor vielen Menschen zu sprechen. „Ich merke, wie sich ein Knoten im Magen bildet. Manchmal verstumme ich dann einfach ganz." Muss sie Arzttermine vereinbaren oder Rechnungen bezahlen, ist sie häufig auf die Unterstützung ihrer Familie angewiesen.

Bei Daniel sind es im Gegensatz dazu nicht die sozialen Probleme, die ihn am meisten beeinträchtigen, sondern seine Sinneswahrnehmungsstörung. „Es passiert etwa oft häufig, dass ich nach einer Flasche greife und sie verfehle, weil das Urteilsvermögen über die räumliche Wahrnehmung bei Autisten eingeschränkt ist."

Gerüche, Geräusche und starke Beleuchtung sind eine Belastung für Daniel, weil er jedes Detail wahrnimmt. Vor allem Temperaturunterschiede beeinflussen seine Verfassung stark.

Reisen als Herausforderung

Daniel musste sich Bewältigungsstrategien zurechtlegen, damit er seine beruflichen Reisen gut übersteht. Denn für ihn bedeutet eine Reise, dass er aus der kontrollierten Situation herausgerissen und in eine fremde Umgebung katapultiert wird.

Daniel hilft sich damit, seine Komfortzone so gut wie möglich zu imitieren: Er verreist immer in bequemer Kleidung und hat alles dabei, was ihm hilft, sich möglichst wie zuhause zu fühlen. Er verreist deswegen nie ohne seinen Hoodie, einer Jogginghose, Snacks und einer Wasserflasche.

Dabei versucht er aber auch, über sich hinauszuwachsen. "Es geht darum, im Moment zu leben, Herr über die Situation zu sein und zu sehen, wie weit du gehen kannst, deine Grenzen zu kennen."

"ADHS ist der Teufel auf deinen Schultern"

Denn in Daniel schlummert noch eine andere Kraft, die exakt in die gegenteilige Richtung wirkt als sein Autismus: Sein ADHS unterbricht das sonst so ausgeprägte Strukturbedürfnis oft durch Anfälle der Spontanität. "Es ist, als würden die beiden Konditionen aufeinander krachen. ADHS ist der Teufel auf deinen Schultern."

"Superkraft mit Nebenwirkungen"

Es gibt viele Aspekte des Autismus, die Menschen als einschränkend betrachten, die täglichen Hürden scheinen oft schwierig zu überwinden. Charl sieht Autismus dennoch nicht als eine Beeinträchtigung, sondern als „Superkraft mit Nebenwirkungen", die sie zu einem „ambitionierten, entschlossenen und hart arbeitenden Menschen" gemacht habe.

Daniel stimmt ihr zu. Deswegen hat er sich der Aufklärung darüber verschrieben. Gerade baut er seinen Youtube-Kanal aus, stellt darin Bewältigungsstrategien vor. "Wie man aus seinen Merkmalen Superkräfte macht" oder "Wie man aus Begabungen und besonderen Interessen einen Beruf macht", lauten die Titel der Videos. Daneben hält er auf der ganzen Welt Reden über Autismus.

Das prominenteste Beispiel für eine positive Auslegung des Asperger-Syndroms ist für ihn Greta Thunberg. „Dass sie ein leidenschaftliches und intelligentes Mädchen ist, macht manchen Menschen Angst. Mächtige Menschen, die selbst oft Wissen vortäuschen, wissen, dass Wissen eigentlich Macht bedeutet. Das weiß sie schon in jungen Jahren besser, versteht es tiefgründiger als so mancher Erwachsener.

Als Botschafterin des Autismus sieht er sie deswegen als Vorbild: „Sie sieht das Negative nicht und macht eine Superkraft aus ihrem Asperger. Die Diagnose definiert Greta nicht, sondern verleiht ihr außergewöhnliche Fähigkeiten." Genau diesen Wandel im Denken gelte es anzuregen. „Viele Menschen am Spektrum denken, sie werden nie gut genug für etwas sein. Dabei realisieren sie nicht, dass es gewisse Gebiete gibt, auf denen sie herausragend sind." So wie dieses 16-jährige Mädchen, das vor der UNO über Dinge spricht, „die tatsächlich nicht egal sind".

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