Gesundheit

Giftgas – "Der Grausamkeit ist keine Grenze gesetzt"

In Mariupol soll es vor wenigen Tagen zu einem Giftgasangriff gekommen sein. "Heute" hat mit dem Kommandanten der ABC-Abwehrtruppe darüber gesprochen.

Christine Scharfetter
Teilen
Mariupol steht unter Dauerbeschuss der russischen Armee.
Mariupol steht unter Dauerbeschuss der russischen Armee.
Sipa Press / Action Press/Sipa / picturedesk.com

Seit 29. April 1997 ist mit der Chemiewaffenkonvention der Einsatz von gewissen chemischen Waffen oder Substanzen verboten. Dennoch soll es Berichten zufolge vor wenigen Tagen im Ukraine-Krieg zu einem Giftgasangriff gekommen sein. "Heute" wollte deshalb von Oberst Jürgen Schlechter, Kommandant des ABC-Abwehrzentrums des Österreichischen Bundesheeres, wissen, wie es trotz des Verbots dazu kommen konnte, welche Auswirkungen eine solcher Angriff hat und ob eine Gefahr für Österreich besteht.

 Alle Entwicklungen des Ukraine-Krieges im "Heute"-Liveticker >>>

Oberst Schlechter, was bedeutet ein Giftgasangriff?

Wir sprechen bei Giftgas von sogenannten chemischen Waffen oder chemischen Kampfstoffen. Es gibt eine Unzahl von chemischen Substanzen, die man entsprechend ausbringen kann und die dann in den menschlichen Organismen eine schädliche bis tödliche Wirkung haben können. 

Sind chemische Waffen mittlerweile nicht verboten?

Mit der sogenannten Chemiewaffenkonvention sind chemische Waffen und Substanzen verboten. Es gibt aber eine Vielzahl an chemischen Substanzen, die wir alle in unserem Alltag verwenden und brauchen, die nicht verboten sind, aber mit denen man auch entsprechende Waffen bauen kann. Hier gilt der alte Spruch, die Dosis macht das Gift. Man kann auch aus ganz harmlosen Substanzen, die wir im Alltag verwenden, bei einer höheren Dosierung eine provisorische Waffe machen. Bilder, die wir vor allem aus dem Syrien-Konflikt kennen. Dort wurden handelsübliche, chemische Substanzen eingesetzt, die per se nicht verboten sind, trotzdem aber eine verheerende Wirkung am Menschen erzielen können.

"Es gibt eine Vielzahl an chemischen Substanzen, die wir alle in unserem Alltag verwenden, mit denen man entsprechende Waffen bauen kann."

Was für eine Art von Gift kommt dabei zum Einsatz?

Es gibt etwa 20 Substanzen, die als chemische Kampfstoffe deklariert und entsprechend verboten sind. Da ist es auch höchstunwahrscheinlich, dass diese erneut zum Einsatz kommen. Aber gefährlich sind eben die handelsüblichen Dinge und da gibt es in der chemischen Palette eine Unzahl von Substanzen, die man da zum Einsatz bringen kann. Man kann einen Menschen theoretisch auch mit Salz vergiften. Wenn ich einem Menschen zu viel Salz zuführe, dann wird das auch eine verheerende Wirkung haben. Da ist der Fantasie, der Grausamkeit kaum eine Grenze gesetzt.

Welche Auswirkungen können solche Giftgase auf den Menschen haben?

Es gibt Substanzen, die auf die Haut einwirken und dort schwere Verbrennungen verursachen. Oder es gibt Nervenkampfstoffe, die die Synapsen der Muskelentspannung blockieren, man somit keine muskuläre Tätigkeit der Entspannung mehr haben kann und im schlimmsten Fall an Krämpfen stirbt. Oder es gibt auch Kampfstoffe, die entsprechend das Atemsystem angreifen und dort Schädigungen hervorrufen.

Mutmaßungen zufolge soll in Mariupol Phosphormunition zum Einsatz gekommen sein. Was bewirkt diese Substanz?

Phosphor ist eine Art Mittelding, weil es sich um keinen klassischen Kampfstoff handelt, sondern man damit einen Brand versucht zu provozieren. Die Eigenschaft von Phosphor ist, dass es bei sehr hohen Temperaturen verbrennt und es daher zu Brandschädigungen kommt. Außerdem ist Phosphor nicht mit herkömmlichem Wasser zu löschen, sondern das Gegenteil entsteht und der Brand wird mehr angefacht. Die Verbrennungsschädigungen, die dabei am Menschen entstehen, sind das Grausliche und Fürchterliche.

"Die Verbrennungsschädigungen, die dabei am Menschen entstehen, sind das Grausliche und Fürchterliche."

Wie erfolgt ein Giftgasangriff?

Traditionellerweise sind chemische Waffen immer mit weitreichenden Artilleriesystemen verschossen worden. Sprich, mit Raketen, Mörsern oder Granaten, die über mehrere Kilometer verschossen werden können und dann dementsprechend eben diese Chemikalien freisetzen. Diese wurden mit der Chemiewaffenkonvention jedoch verboten und sind dementsprechend vernichtet worden. Das heißt, wir reden jetzt in erster Linie von Chemikalien, die nicht mehr traditionell über militärische Artilleriesysteme verschossen werden können. Es gibt aber andere einfache Möglichkeiten. Das ist mit Fässern, die mit Chemikalien gefüllt sind und einfach über Gebieten mit Hubschraubern abgeworfen werden möglich und geht in kleineren Mengen bis hinunter zu Drohnen, die durch leichte Einrichtungen Chemikalien versprühen. Oder man bringt die Substanz am Boden mit Tankfahrzeugen irgendwo hin, setzt es dann mit einer geeigneten Rakete oder mit einem Gewehr in Brand und es kommt so zu einer Freisetzung.

Wie lange bleibt ein solches Gift in der Luft?

Da muss man zwischen zwei Arten von chemischen Kampfstoffen unterscheiden. Es gibt flüchtige Gase, die eine Einwirkzeit von wenigen Minuten haben und sich dann sehr schnell in der Luft verflüchtigen und keine schädigende Wirkung haben. Und es gibt sogenannte sesshafte Kampfstoffe, die darauf designt sind, länger zu bleiben und auch länger zu wirken. Für den Menschen sind die Flüchtigen die angenehmeren, weil da die tödliche Wirkung nach wenigen Minuten bis unter einer Stunde nicht mehr auftritt. 

Und sesshafte Kampfstoffe?

Das kann sich bis über mehrere Tage hinziehen. Dabei handelt es sich um ganz klebrige, zähflüssige Substanzen, die extrem haften bleiben. Das heißt, wenn ich auch nur einen Tropfen auf meiner Kleidung habe, dann bleibt der dort fest picken. Jedes Mal, wenn ich mit der Hand darüberfahren würde, nehme ich wieder eine Dosis von dem Kampfstoff auf.

Wie kann man sich davor schützen?

Am besten, in dem man nicht dort ist. Aber, wenn man rechtzeitig gewarnt werden kann, dann ist es in der Regel ausreichend, dass man sich in Wohnungen begibt, die Fenster schließt, Lüftungen und Klimaanlagen ausschaltet und vielleicht notdürftig verklebt – dann ist das ein hochgradiger Schutz für zivile Personen, um den Kampfstoffen nicht ausgesetzt zu werden.

"Theoretisch wäre es möglich, dass sich das von der Ukraine bis nach Österreich begibt. De facto ist das unmöglich"

Stellt ein Giftgaseinsatz in der Ukraine eine Gefahr für Österreich dar?

Die Ausbreitung nach so einer Freisetzung wird von zwei Faktoren wesentlich beeinflusst, der erste ist die Dosis, also wie viel Gift, Kampfstoff wird ausgebracht, und der zweite ist das Wetter. Wobei ich gleich vorwegschicken muss, theoretisch wäre es möglich, dass sich das von der Ukraine bis nach Österreich begibt. De facto ist das unmöglich, denn sollten sich die Kampfstoffe so weit vertragen lassen, dann sind sie wiederum auch so leicht, dass sie flüchtig sind und daher in der Konzentration, in der sie in irgendeiner Art und Weise giftig sind, nicht mehr nach Österreich kommen. Dass wir hier in Österreich eine unmittelbare Gefahr aus einem Giftgasangriff aus der Ukraine hätten, ist eigentlich auszuschließen.

Was sind die Aufgaben der ABC-Abwehrtruppe in Österreich?

Die ABC-Abwehrtruppe des österreichischen Bundesheeres ist eine Spezialeinheit, die genau auf die atomaren, biologischen und chemischen Gefahren- sowie Kampfstoffe spezialisiert ist. Unsere wesentliche Aufgabe ist zunächst einmal, diese Stoffe möglichst schnell und rechtzeitig zu identifizieren und damit auch zu wissen, wie die entsprechenden Gegenmaßnahmen funktionieren. Mittels Computerberechnungen wird modelliert, wo die Substanz aufgrund des Wetters hingehen kann. Dann wird eine allenfalls betroffene Bevölkerung oder Infrastruktur mittels spezieller Verfahren und Chemikalien wieder dekontaminiert. Bei Oberflächen ist das relativ einfach. Beim Menschen ist es jedoch besonders kompliziert, weil sich die Gifte dann schon im menschlichen Organismus befinden und dann hier mit speziell geschultem, medizinischem Personal vorgegangen werden muss. Dann ist eine Aufgabe das Retten und Bergen aus kontaminierten Umgebungen sowie die Trinkwasseraufbereitung.