"Ein sehr kleines Mädchen, keine vier Jahre, hat uns nahezu die Einrichtung auseinandergenommen." Der Bericht einer Psychiaterin über eine sogenannte Systemsprengerin im Kindergartenalter ist drastisch. Nicht weniger erschütternd die Schilderungen ihrer Kollegen: Sie erzählen von einem achtjährigen afrikanischen Flüchtlingskind, auf das sich gleich fünf Mitarbeiter stundenlang setzen mussten, um es zu beruhigen. Oder: Ein Bursch verkleidete sich auf offener Straße als Terrorist und sorgte so für einen Großeinsatz der Polizei.
In einem sind sich Pädagogen aus Nordrhein-Westfalen einig: Die immer jüngeren "herausfordernden Kinder", wie sie genannt werden, "brauchen Kontinuität und Menschen, die sie aushalten". Was demnach keinesfalls etwas bringt: eine Senkung des Strafalters auf unter 14, wie sie vor allem von rechten Politikern zuletzt wiederholt vehement gefordert wurde. Worauf die Experten hingegen ganz stark setzen, ist Vorbeugung.
Der Grundsatz "Prävention statt Reparatur" gilt auch für Erik Lierenfeld, Bürgermeister von Dormagen, knapp 30 Kilometer von Düsseldorf entfernt. Das SPD-Oberhaupt der 65.000-Einwohner-Stadt fährt damit seit Jahren gut und wurde zu einer Benchmark für zahlreiche andere Gemeinden. Lierenfeld setzt auf Niederschwelligkeit: Sozialarbeiter geben sich bei frischgebackenen Eltern zur Geburt mit einem Begrüßungspaket ein Stelldichein. Die Bürger werden auf Augenhöhe bis ins hohe Alter begleitet, ein eigenes "Haus der Familie" ist dafür der Treffpunkt. Weitere sichtbare Zeichen des engen Austauschs: ein Briefkasten für Kinder-Anliegen am Eingang zum Rathaus oder ein Zahnarzt speziell für die junge Bevölkerung.
Das Thema Jugendgewalt beschäftigt die OÖ-Politik seit vergangenem Herbst noch intensiver als zuvor. Damals in der Halloween-Nacht gab es schwere Ausschreitungen, es hagelte Anzeigen. Dutzende Prozesse folgten. Der Ruf nach einer Senkung des Strafalters wurde lauter.
"Ein Vorzeigemodell, das wir uns live und in Farbe anschauen wollten", sparte der oberösterreichische Kinderschutz-Landesrat Michael Lindner (SPÖ) auf seiner Bildungsreise nicht mit Lob. Prophylaxe sei essenziell, enge, disziplinübergreifende Zusammenarbeit das Um und Auf. Gerade hier habe das Bundesland noch Nachholbedarf, appelliert Lindner an Bildungs- und Gesundheitsreferentin LH-Stv. Christine Haberlander (ÖVP), die drei Bereiche mehr zu verschränken. "Die deutsche Region ist uns auf jeden Fall einige Schritte voraus."
"Das Ziel von uns allen muss sein, Familiensysteme so zu unterstützen, dass es erst gar nicht zu Krisensituationen kommt", betont der Landesrat. Konkret plant er etwa einen Ausbau der sogenannten Frühen Hilfen: Damit wird Kindern noch vor der Geburt und in den ersten drei Lebensjahren sowie ihren Angehörigen geholfen. Außerdem setzt das Land Oberösterreich auf mobiles Familiencoaching, das beispielsweise vor Schulen und auch an Badeseen stattfindet.
„Das Ziel von uns allen muss sein, Familiensysteme so zu unterstützen, dass es erst gar nicht zu Krisensituationen kommt.“Michael LinderSP-OÖ-Landesrat
Darüber hinaus ist man gerade dabei, Streetwork auf die Höhe der Zeit zu heben: Drei szenekundige Sozialarbeiter sind im virtuellen Raum unterwegs und versuchen, junge Menschen in ihren Lebenswelten – Soziale Medien und Online-Spiele – abzuholen. Und: Wer Kinderschutz ernstnimmt, komme um die Vermeidung von Armut nicht herum. Lindner fordert daher eine Grundsicherung schon für die jüngsten Mitbürger. "Damit wir nicht über die Frage von Burger und McDonald's diskutieren müssen", so der Politiker in Richtung von Kanzler Karl Nehammer (ÖVP).