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Türkei-Wahl: "Stichwahl wird für Opposition schwierig"

Die Präsidentschaftswahl in der Türkei läuft auf eine Stichwahl heraus. Umfragen hatten Herausforderer Kilicdaroglu vorne gesehen. Was ist passiert?

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Oppositionsführer Kilicdaroglu erhielt 44,79 Prozent der Stimmen. Die Endergebnisse wurden noch nicht verkündet. Es war unklar, wann damit zu rechnen ist.
Oppositionsführer Kilicdaroglu erhielt 44,79 Prozent der Stimmen. Die Endergebnisse wurden noch nicht verkündet. Es war unklar, wann damit zu rechnen ist.
REUTERS

Nach 20 Jahren an der Macht muss sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan voraussichtlich erstmals einer Stichwahl stellen. Beim Stand von rund 95 Prozent der ausgezählten Wahlurnen im Inland und rund 37 Prozent im Ausland liegt Erdogan laut Wahlbehörde bei 49,49 Prozent der Stimmen, Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu kam auf 44,79 Prozent. Beide verfehlten damit die absolute Mehrheit von 50 Prozent. Die Endergebnisse wurden noch nicht verkündet. Es ist unklar, wann damit zu rechnen ist.

Die Ergebnisse sind insofern überraschend, als dass Umfragen die Opposition um Kilicdaroglu deutlich vor dem langjährigen Machthaber sahen. Wie lässt sich das erklären, wie gelang Erdogan dieser Finish und was ist von den jetzt laut werdenden Vorwürfen von Wahlmanipulationen zu halten? Fragen an Kristian Brakel von der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul.

Herr Brakel, was sind Ihre Eindrücke vom Wahlverlauf?

Die Ergebnisse sind für die Opposition und ihre Unterstützer und Unterstützerinnen weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Es zeigt sich wieder einmal, dass Umfragen in der Türkei in vielerlei Hinsicht nicht verlässlich sind. Das kann an der Methodik liegen oder daran, dass sich viele Wählerinnen und Wähler im aktuellen Klima nicht trauen, ihre Meinung zu sagen.

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    Das Rennen um das Präsidentenamt zwischen Amtsinhaber Erdogan und seinem Herausforderer Kilicdaroglu war knapp – und geht wohl in eine zweite Runde. Für Erdogan ist das Ergebnis ein Rückschlag. Aber auch die Opposition blieb unter ihren Erwartungen.
    Das Rennen um das Präsidentenamt zwischen Amtsinhaber Erdogan und seinem Herausforderer Kilicdaroglu war knapp – und geht wohl in eine zweite Runde. Für Erdogan ist das Ergebnis ein Rückschlag. Aber auch die Opposition blieb unter ihren Erwartungen.
    OZAN KOSE / AFP / picturedesk.com

    Wer ist bei der Stichwahl im Vorteil?

    Danach sieht es aus, ja. Aber der Abstand zwischen den beiden Kandidaten ist sehr viel grösser als angenommen, nicht ein oder zwei, sondern fünf Prozent. Erdogan selbst hat sich gestern Nacht sogar noch relativ optimistisch gezeigt, dass er der Stichwahl entgehen könnte, was ich aber nicht glaube. Es wird für die Opposition in der Stichwahl aber sehr, sehr schwierig, noch aufholen zu können.

    Wieso wird es für die Opposition schwierig?

    Die fünf Prozent, die ihr noch fehlen, sind auf den rechtsextremen Kandidaten Sinan Ogan entfallen. Dieser hat zwar vor der Wahl gesagt, dass er sich eine Unterstützung der Opposition durchaus vorstellen könne – solange er ein Ministeramt kriege. Jetzt ist der Preis offenbar schon gestiegen: Ogan hat gestern angedeutet, dass er nicht akzeptieren könne, dass die Opposition mit der prokurdischen HDP paktiert. Allerdings kommt diese auf gut zehn Prozent der Stimmen, sodass die Opposition auf diese Stütze nicht verzichten kann. Wie könnte die Opposition den Abstand verkleinern? Ich könnte mir vorstellen, dass man die fehlenden Punkte in den zwei Wochen bis zur Stichwahl noch mit dem Flüchtlingsthema zu holen versucht.

    Mit welchem Argument?

    Das Thema um die Millionen syrischer Flüchtlinge in der Türkei war in diesem Wahlkampf interessanterweise nicht das Hauptthema, weil Regierung und Opposition ungefähr die gleiche Haltung haben. Beide stellen einen Deal mit dem syrischen Machthaber Assad in Aussicht und wollen Konditionen schaffen, dass die Geflüchteten mehr oder weniger freiwillig nach Syrien zurückkehren können. Das ist zwar super unrealistisch, aber das Thema könnte in der Zeit zur Stichwahl der Anreiz sein, die Rhetorik stärker hochzufahren, um sich Stimmen zu sichern.

    Es stehen Manipulationsvorwürfe im Raum. Wie ist das einzuschätzen?

    Das gab es bei jeder Wahl, die ich mitgemacht habe. Am Anfang meldet die staatliche Nachrichtenagentur einen grossen Lead für Erdogans Regierung. Das liegt daran, dass jeweils kleinere Bezirke zuerst ausgezählt werden, und das sind meist ländliche, AKP-freundliche Gebiete. Im Laufe der Nacht gleicht sich das dann jeweils an – so wie es ja auch heute Nacht passiert ist. Die Opposition hat nun den Vorwurf erhoben, dass viele Wahlurnen in Oppositionsgebieten zwar ausgezählt, aber die Ergebnisse nicht ins zentrale System eingetragen wurden. Doch es sieht nicht so aus, als würden diese allzu sehr ins Gewicht fallen. Es kann natürlich Manipulationen gegeben haben, aber das ist sehr schwierig zu beweisen.

    Was halten Sie von Videos, die im Netz kursieren und deutlich Wahlfälschungen zugunsten der AKP zeigen sollen?

    Auch solche Videos gibt es jedes Mal. Es ist sehr schwierig nachzuprüfen, ob sie echt sind und wenn ja, in welchem Umfang solche Manipulationen stattfanden. Es gibt mit Sicherheit Fälschungen während des Wahlprozesses. Die Frage ist, wie viel Prozent diese ausmachen. Die Diskussion um Wahlmanipulation würde in der Türkei um einiges heftiger geführt, wenn wir zwischen Erdogan und Kilicdraoglu einen Abstand von lediglich ein oder zwei Prozentpunkten gesehen hätten. Doch bei den aktuellen fünf Prozent, denke ich nicht, dass das das grosse Thema sein wird.

    Wie erklären Sie sich, dass Erdogan jetzt doch klar vorne liegt?

    Grundsätzlich: Das System, das 2017 umgebaut worden ist, ist genau mit Blick darauf umgebaut worden, dass nicht nur Erdogan viele Kompetenzen bekommt, sondern im Prinzip auch, um immer die Dominanz des rechten Blocks zu sichern. Das zeigt sich auch jetzt wieder, selbst wenn die Opposition über ideologische Grenzen hinweg zu einer grossen Geschlossenheit findet. Zudem ist die AKP sehr gut organisiert und sehr gut darin, Wahlkampf zu machen und von Haustür zu Haustür zu ziehen. Kommt der Vorteil des Amtsinhabers hinzu: Viele Wählenden wollen sich auf keine Experimente mit einem neuen Kandidaten einlassen. Und natürlich gibt es diese Polarisierung der Gesellschaft, die in den letzten Jahrzehnten vorangetrieben worden ist.

    Wie zeigt sich diese bei der Wahl?

    Es gab etwa viele Straßen-Interviews, in denen sich Wähler zur AKP bekannten, mit der Begründung, dass, wenn die Opposition an die Macht kommen würde, Moscheen geschlossen und Korankurse verboten würden. Die Opposition hat dies nie gesagt, doch mit dieser Angst wurde stark gespielt. Es gibt in der Türkei immer noch viele Leute, die Erdogan als "ihren Mann" sehen und die Opposition aus kulturell-ideologischen Gründen nicht wählen.

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      "Heute"-Montage, Material APA-Picturedesk