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Überlebende erzählen als Hologramm vom Holocaust

Mittels volumetrischer Erfassung werden Zeitzeugen-Erzählungen erfasst, um für künftige Generationen so realistisch wie möglich erhalten zu bleiben.

Sabine Primes
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Die Berliner Zeitzeugin Ruth Winkelmann (93) bei der Aufnahme. 
Die Berliner Zeitzeugin Ruth Winkelmann (93) bei der Aufnahme. 
Monika Skolimowska / dpa / picturedesk.com

Ruth Winkelmann (93) spricht mit der Zukunft. "Hallo", sagt sie. "Schön, dass du da bist." Sie trägt eine Kette mit einem Davidstern um den Hals, die braunen Haare kurz geschnitten. Gerade ist sie aus der Maske gekommen. Sie sitzt allein auf einem Stuhl in einem Filmstudio in Potsdam-Babelsberg (Deutschland). Das Licht schimmert weich, die Kulisse sieht aus wie das Innere einer riesigen weißen Trommel. Hier wird die alte Dame erzählen, wie sie den Terror der Nazis überlebt hat.

36 Kameras, die wie Augen aus der Wand lugen, sind auf sie gerichtet. Aus den Daten wird mit Hilfe von futuristischer Technik eine neue Form von 3D-Aufnahme, ein "Volucap" (volumetrische Erfassung). In dem Studio, in dem sonst Werbung oder ein Kinofilm wie "Matrix 4" gedreht wird, entsteht Zeitgeschichte zum Anfassen für spätere Generationen.

Regisseur Christian Zipfel hat Ruth Winkelmann erklärt, wie sein Interview abläuft. Etwa, dass sie in ganzen Sätzen antworten soll. "Kriegen wir hin", sagt Winkelmann. Mit Interviews hat sie Erfahrung. Sie ist viele Jahre als Zeitzeugin vor Schulklassen und bei Lesungen unterwegs gewesen, das Buch "Plötzlich hieß ich Sara" handelt von ihrem Leben in der NS-Zeit. Sie wuchs in einer christlich-jüdischen Familie in Berlin auf und überstand die Verfolgung in einer Laube versteckt. Nach dem Krieg verkaufte sie Strickmaschinen in einem Laden im Bezirk Wedding. Man hört: Sie ist eine waschechte Berlinerin.

Vermächtnis bewahren

Die zweifache Urgroßmutter gehört zu der Generation der sehr betagten Zeitzeugen, deren Vermächtnis bewahrt werden soll. Wie viele Holocaust-Überlebende 77 Jahre nach Kriegsende noch am Leben sind, weiß man nicht genau. Es gibt viele Ansätze in der Erinnerungskultur. Ein berühmtes Beispiel ist Steven Spielbergs Archiv, das in den 90er Jahren begann, die Stimmen der Überlebenden zu dokumentieren. Das Deutsche Technikmuseum in Berlin testet ein interaktives Modell mit der Auschwitz-Überlebenden Anita Lasker-Wallfisch: Mit Hilfe von Spracherkennung gibt diese auf einer Monitor-Darstellung Antworten auf Fragen von Schülern.

Unmittelbare Nähe

Im Studio in Babelsberg erzählt Betriebsleiter Torsten Schimmer, wie die Technik des Startups Volucap funktioniert: Man kann auf dem Handy-Bildschirm zuvor gefilmte Menschen direkt vor sich in der Umgebung erscheinen lassen. Sie bewegen sich. Das sieht täuschend echt aus. Noch ist das ungewohnt, aber Gewohnheiten ändern sich.

Wurden bislang zweidimensionale Inhalte zur Dokumentation zeitgeschichtlicher Ereignisse und Interviews mit Holocaust-Überlebenden genutzt, beginnt nun die Ära der Volcaps. Dadurch soll der Betrachter das Gefühl bekommen, mit den Gefilmten im gleichen Raum zu sein. Die Kameras im Studio haben eine Auflösung von mehr als 100 Kinokameras. Die Menge an verarbeiteten Daten ist riesig: In einer Minute sind es so viel wie bei zehn Jahren Musik, erklärt Volucap-Geschäftsführer Sven Bliedung von der Heide. Handys sind für ihn eine "technische Krücke". Bald könnten sie seiner Meinung nach von Mixed-Reality-Brillen abgelöst werden, bei denen die reale und die digitale Welt verschmelzen. Das wäre dann zum Beispiel als Technik auch bei Gedenkstätten-Besuchen denkbar.

Persönliche Erzählungen

Die Erzählungen der Holocaust-Überlebenden sollen für die technischen Möglichkeiten der Zukunft bewahrt werden – in einer Zeit, in der man sie noch selbst befragen kann. Die Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf hat das Projekt gestartet. Als Erste war die unermüdliche Margot Friedländer (100) im Studio, um zur Zeitzeugin in 3D zu werden. Nichts ersetze die persönliche Begegnung, sagt Bliedung von der Heide. Aber: "Es ist das Nächste, was wir schaffen, um das zu erreichen."

Ruth Winkelmann wird etwas über eine Stunde befragt. Regisseur Christian Zipfel hat sich akribisch vorbereitet. Er sitzt draußen und sieht die Zeitzeugin auf einem großen Monitor. Er lässt sie beschreiben, wie das jüdische Leben vor 1938 war. "Uns hat eigentlich keiner behelligt", sagt Winkelmann.

Dann geht es um die Reichskristallnacht (November-Progrome), die zerschlagenen Scheiben der jüdischen Geschäfte und die brennenden Synagogen. Winkelmann erinnert sich, wie ein Mann geschlagen und ihm mit weißer Farbe ein Davidstern auf den Mantel gemalt wurde. Wie sie mit anderen Kindern in einer Schulaula ausharrte und betete. Wie die Nazis die Juden mit immer neuen Verboten und Regeln drangsalierten. "Am Ende durfte man gerade nur noch atmen." Der Vater schrieb aus dem Konzentrationslager Auschwitz zunächst noch Postkarten. Das hörte im Juli 1943 auf. Die kleine Schwester starb an Diphtherie. Sie selbst überlebte zwei Jahre in einer Laube im Norden Berlins, ohne Heizung oder fließendes Wasser.

"Ich habe mich befreit"

Ruth Winkelmann spricht hochkonzentriert und anschaulich. Auch nach dem intensiven Interview ist sie noch nicht zu müde für ein Gespräch. Die moderne Technik sieht sie locker. Einzig das Licht war anders als sonst, wie sie sagt. Nach 1945 mochte sie viele Jahrzehnte nicht über ihre Erlebnisse in der Nazi-Zeit reden. Das änderte sich erst durch eine Urlaubsbekanntschaft vor 20 Jahren, die sie dazu brachte, Schülern von sich zu erzählen. Am Anfang weinte sie sehr viel. Der Ballast wurde weniger. "Ich habe mich befreit."