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Warum Erdogan jetzt die EU erpressen kann

Heute Redaktion
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Der türkische Präsident verbittet sich, dass andere Politiker die Militäroperation in Syrien als Invasion bezeichnen. Sonst werde er die Grenzen für Flüchtlinge öffnen.

Der türkische Präsident Präsident Recep Tayyip Erdogan nutzt das Leid der Flüchtlinge, um die Europäische Union zu erpressen. Er droht, die Tore nach Europa zu öffnen. Der Boss vom Bosporus sitzt am längeren Hebel – und kann deshalb der EU auf der Nase herum tanzen.

Europäische Union versprach Ankara viel Geld

Die Hintergründe: In den vergangenen Jahren hat die Türkei Millionen Flüchtlingen aufgenommen und ist zeitgleich von Europa weitgehend mit den Migranten alleine gelassen worden.

Im Jahr 2015 lockerte dann die Regierung Erdogan an den Westgrenzen die Kontrollen zu Land und Wasser. Die Folgen sind weitestgehend bekannt: Eine gewaltige Flüchtlingskrise erschütterte Europa nachhaltig.

Damals hatte es die EU besonders eilig, mit der Türkei ins Geschäft zu kommen. So entstand der äußerst umstrittene EU-Türkei-Deal, der Ankara viel Geld versprach dafür, dass es seine Grenzen erneut kontrolliere und auch syrische Flüchtlinge aus Griechenland „zurücknehme".

Die EU legte mit dieser Entscheidung ihr Schicksal in die Hände des türkischen Präsidenten, der nun zunehmend innen- und außenpolitisch in Bedrängnis gerät – und offenbar mit dem Gedanken spielt, der EU weiteres Geld und weitere Konzessionen abzuringen. In der aktuellen Syrien-Krise forderte Erdogan jetzt die Europäische Union auf, die Militäroperation seines Landes in Nordsyrien nicht als Invasion zu bezeichnen. Er verband dies am Donnerstag mit der Drohung, Flüchtlingen in seinem Land den Weg nach Europa zu öffnen.

Erdogan droht mit Flüchtlingen

„Hey EU, wach auf! Ich sage erneut: Wenn ihr unsere Operation als Invasion darzustellen versucht, ist unsere Aufgabe einfach: Wir werden die Türen öffnen, und 3,6 Millionen Menschen werden zu euch kommen", droht der türkische Präsident, wenn die EU das Land bei deren Versorgung nicht stärker unterstützt. Nun warf er der EU erneut vor, ihre Versprechen aus dem Flüchtlingsdeal von März 2016 nicht eingehalten zu haben. "Nun sagen sie, dass sie uns die drei Milliarden Euro vorenthalten werden. Habt ihr jemals eure Versprechen an uns eingehalten? Nein", sagte Erdogan.

Gelder werden laut Erdogan nicht rasch genug überwiesen

Beim Deal zu den Flüchtlingen hatte die Europäische Union zugesagt, über drei Jahre hinweg zweimal je drei Milliarden Euro für die Versorgung der Flüchtlinge in der Türkei zu zahlen. Ankara hatte dafür zugesichert, mehr zu tun, um die Flüchtlinge an der Überfahrt auf die griechischen Ägäisinseln zu hindern. Die türkische Regierung beklagt seit Jahren, dass die Gelder nicht rasch genug überwiesen würden. Nach EU-Angaben wurden bisher 2,6 Milliarden Euro ausgezahlt.

Darum marschiert die Türkei in Syrien ein

Am Mittwochnachmittag hat die Türkei mit Luftangriffen ihre Militäroffensive in Nordsyrien gestartet. Laut eigenen Aussagen will der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan dort Terrorismus bekämpfen und Stabilität in die Region bringen. Weiter will Erdogan entlang der Grenze zur Türkei eine sogenannte "Sicherheitszone" schaffen, um die rund 3,6 Millionen Syrer, die in die Türkei flüchteten, umzusiedeln.

>>> Alle aktuellen Infos zur türkischen Militäroffensive in Syrien in unserem Newsticker



Tatsächlich zielt der türkische Militäreinsatz gegen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), die Erdogan aus dem Gebiet vertreiben will. Die YPG unterstützte die USA in ihrem Kampf gegen den Islamischen Staat (IS). Die Türkei hingegen stuft die kurdische Miliz als "terroristisch" ein, da diese der kurdischen Partei PKK nahestehe.

Seit 2016 ist die Türkei bereits zwei Mal gegen die YPG-Miliz vorgegangen. Möglich machte den türkischen Einzug der von Donald Trump angeordnete Abzug der US-Truppen aus Nordsyrien. Kritik daran wies der US-Präsident lapidar zurück: Die Kurden hätten den USA 1944 nicht geholfen: "Sie haben uns nicht im Zweiten Weltkrieg geholfen, sie haben uns beispielsweise nicht mit der Normandie geholfen", so Trump am Mittwoch.

Die Kurden würden vielmehr für "ihr Land" kämpfen. Die USA hätten die Kurden bereits stark unterstützt: "Wir haben enorme Geldbeträge ausgegeben, um den Kurden zu helfen, mit Munition, mit Waffen, mit Geld, mit Sold."

Welche internationalen Reaktionen gibt es?

International stößt die Militäroffensive auf Kritik. Laut dem "Spiegel" will sich der UNO-Sicherheitsrat am Donnerstag zum Thema beraten. Abgesehen von Katar hat sich kein Staat hinter die Türkei gestellt. Auf Twitter schreibt der deutsche Außenminister Heiko Maß: "Wir verurteilen die türkische Offensive in Nordost-Syrien aufs Schärfste. Die Türkei nimmt eine weitere Destabilisierung der Region in Kauf und riskiert das Wiedererstarken des IS. Wir rufen die Türkei auf, die Offensive zu beenden."

Wer will Erdogan stoppen?

Bereits am Mittwochabend haben die EU-Staaten die Türkei in einer gemeinsamen Erklärung zum Abbruch der Militäroffensive in Nordsyrien aufgefordert. Wie der "Spiegel" schreibt, wollen auch US-Senatoren, Erdogan persönlich sanktionieren, sollte er seine Streitkräfte nicht abziehen. Sie schlagen vor, jegliche Besitze Erdogans und seiner Minister in den USA einzufrieren. Weiter sollen US-Rüstungsgüter nicht mehr an türkische Truppen verkauft werden dürfen.

Gegenüber dem Radio SRF weist der freie Journalist Thomas Seibert jedoch darauf hin, dass Erdogan sich davon wohl wenig beeindrucken lasse, da er aufs Veto-Recht von Präsident Trump vertraue. Dieser hat bereits in der Vergangenheit vom Senat verlangte Sanktionen gegen den türkischen Präsidenten verhindert. Trotzdem hat Trump via Twitter damit gedroht, die türkische Wirtschaft zu zerstören.

Wie sieht die aktuelle Lage aus?

Laut dem Rojava Information Center ist es im Laufe des Mittwochs zu zahlreichen Bodenangriffen entlang der Grenze gekommen. Laut Medienberichten sind bis am Donnerstagmorgen 15 Menschen ums Leben gekommen, darunter 2 Kinder. In der betroffenen Region leben rund zwei Millionen Menschen. Zehntausende Zivilisten sind seit gestern zu Fuß oder auf Motorrädern auf der Flucht ins Landesinnere.

Laut dem Rojava Information Center haben die türkischen Streitkräfte Häuser nahe des al-Chirkin-Gefängnisses beschossen. Dort werden mitunter die gefährlichsten IS-Kämpfer festgehalten. Weiter soll es im weiter weg gelegenen Gefangenen-Lager Al-Hol im nordost-syrischen Hasakah zu Fluchtversuchen von IS-Kämpferinnen gekommen sein. Ob bereits IS-Kämpfer aus der kurdischen Gefangenschaft entkommen konnten, ist bis jetzt nicht bestätigt.

Was geschieht mit den IS-Gefangenen in Nordsyrien?

Die kurdischen Einheiten sollen über 10.000 IS-Kämpfer festhalten. Nach dem Einzug der türkischen Truppen ist unklar, ob die Gefangenen unter Kontrolle gehalten werden können. Die von Kurden angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) haben alle Operationen gegen den IS gestoppt, um sich den türkischen Truppen entgegenzustellen.

Via Twitter verkündete US-Präsident Trump, die USA habe zwei besonders gefährliche IS-Gefangen übernommen, um deren Flucht zu verhindern. Laut focus.de handelt es sich dabei um Alexanda Kotey und El Schafi Elscheich. Die beiden sollen über 20 Geiseln enthauptet und viele weitere gefoltert haben. Gleichzeitig sagte Trump gegenüber Medien punkto IS-Kämpfer: "Nun, sie werden nach Europa fliehen."