Gesundheit

"Hasskommentare führen zu zusätzlicher Traumatisierung"

Das eigene Kind zu verlieren ist ein schwerwiegendes Trauma. Wie mit dem Schmerz umgegangen werden kann, haben wir eine Traumaberaterin gefragt.

Sabine Primes
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Man muss mit seiner Trauer nicht alleine bleiben.
Man muss mit seiner Trauer nicht alleine bleiben.
Getty Images/iStockphoto

Im Mordfall der jungen Leonie geht es weiterhin Schlag auf Schlag und die Emotionen hoch. Das 13-jährige Mädchen war Ende Juni tot in der Wiener Donaustadt aufgefunden worden ("Heute" berichtete). 

Den Eltern und hinterbliebenen Geschwistern steht nun eine schwere Zeit bevor. Wie wird man mit so einem Trauma fertig? Kann man es überhaupt jemals verarbeiten und wieder ein normales Leben führen? Darüber haben wir mit einer Expertin gesprochen. Petra Karner ist Psychotherapeutin und Mitbegründerin des Instituts für Traumaverarbeitung in Wien und somit auf die therapeutische Verarbeitung schwerwiegender Lebenseinschnitte spezialisiert. 

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    Sie bleibt unvergessen: Blumen- und Kerzenmeer für Leonie (13).
    Sie bleibt unvergessen: Blumen- und Kerzenmeer für Leonie (13).
    Denise Auer, privat; "Heute"-Montage

    Dass die Eltern kurz nach dem Tod ihrer Tochter mit einem Interview den Schritt in die Öffentlichkeit gewagt haben, stieß manchen sauer auf. Nach der Veröffentlichung des Interviews richteten sich in den sozialen Medien angriffige Kommentare gegen die Eltern. (Anm.: Das Posting wurde mittlerweile offline genommen). Wie erklären Sie sich diesen Schritt der Eltern? 

    "Aus meiner psychotherapeutischen Erfahrung kann ich sagen, dass jeder anders mit so einer Situation umgeht. Es ist ein Bewältigungsversuch. Einer wählt die Zurückgezogenheit, der andere geht nach vorne. Und ich nehme an, dass dieses Interview nicht kalkuliert war, sondern aus einem inneren Impuls heraus gegeben wurde. Was sich gut oder nicht gut auswirkt, kommt darauf an, wie die Eltern es empfinden." 

    Wäre es für die Eltern psychologisch besser, sich nicht einzuschalten?

    "Ob der Bewältigungsversuch glückt oder das Ganze noch schlimmer macht, ist nicht vorhersehbar. Wenn die Eltern den Shitstorm lesen mussten, kann ich mir vorstellen, dass es sich schlecht auswirkt. Aber nach vorne zu gehen, kann im ersten Schritt helfen."

    Warum haben offenbar so viele Leute ein Problem mit der medialen Präsenz der Eltern?

    "Die Reaktion an sich ist typisch menschlich. Denn wenn man so etwas Grauenvolles liest, bewegt es jeden. Wir sind es gewohnt, uns in unserem Alltag sicher zu fühlen und solche Ereignisse sind nicht Teil unseres Alltags. Wenn dann so etwas Unvorstellbares passiert, wird die gewohnte Sicherheit massiv erschüttert. Man fühlt sich ohnmächtig und hilflos. Und es liegt in der Natur des Menschen, vor solchen Gefühlen davonzulaufen. In weiterer Folge sucht man nach begreifbaren Gründen, um eine Handhabe über diese Hilflosigkeit zu bekommen, damit einem das nicht passiert. Das kann leider auch in Form eines Shitstorms passieren, der natürlich eine zusätzliche Traumatisierung für die Opfer ist. Gut wäre es, wenn die Eltern den Shitstorm nicht lesen müssten."

    Müssen sich Hinterbliebene von Mordopfern selbst um psychologische Betreuung kümmern?

    "Da ich selbst Mitglied der Akutbetreuung Wien war, weiß ich, dass sie sich zumindest um die Akutbetreuung nicht selbst kümmern müssen. Die wird von der Rettung oder Polizei in die Wege geleitet. Diese Akutbetreuung soll eine Stütze nach dem ersten Schock sein. Dann wird beraten, wie es weitergeht. Üblicherweise folgen dann noch ein bis zwei Termine und dann endet diese Akutbetreuung. Außerdem gibt es noch das Kriseninterventionszentrum, das ebenfalls für kürzere Zeit kostenlose Beratung anbietet. Es ist eine Beratung für eine weiterführende Betreuung. Eine Langzeitbetreuung kann nur durch eine eigene Psychotherapie gewährleistet werden."

    Ist die nachfolgende Therapie aus eigener Tasche zu bezahlen?

    "Das kommt darauf an. Wer die Mittel hat, kann natürlich schneller mit der Therapie beginnen. Ansonsten gibt es zum Beispiel Hilfe aus dem Opferfond des Sozialministeriums (langer Bewilligungsprozess). Ebenso gibt es die Möglichkeit, bei der ÖGK um einen Zuschuss anzusuchen oder man bekommt einen der sehr wenigen vollbezahlten Kassen-Therapieplätze. Man kann sich auch an die Opferhilfe "Weißer Ring" wenden. Die bevorschusst die Therapie. Damit werden die ersten 8 Sitzungen über den Weißen Ring finanziert, dann braucht man allerdings die Bewilligung des Sozialministeriums. Aber während man auf diese Bewilligung wartet, kann der "Weiße Ring" gute Hilfestellung leisten."

    "Man sollte den bürokratischen Weg jedenfalls nicht scheuen. Denn gerade in solchen Extremsituationen ist eine psychologische Stütze sehr wichtig. Es braucht einen Raum, wo alles ausgesprochen werden kann, ein sogenannter "safe space". Oft will man Freunde oder Familienangehörige nicht zusätzlich mit seinen eigenen Befindlichkeiten belasten oder traut sich manches gegenüber Vertrauten gar nicht auszusprechen."

    Inwiefern kann sich ein solches Ereignis in der Beziehung zu den anderen Kindern bemerkbar machen? 

    "Das ist viel zu früh zu sagen. Aber wenn wir so etwas Erschütterndes erleben, werden sehr viele Gefühle aufgewühlt. In so hohem Maße, dass es nicht aushaltbar ist, daher der Begriff "Trauma". So ein Ereignis wirkt auf jeden Fall auf das allgemeine Lebensgefühl ein und beeinflusst die Beziehung zu anderen Menschen. Die einen kapseln sich ab, die anderen tun genau das Gegenteil und versuchen alles zu kontrollieren."

    Empfehlen Sie den hinterbliebenen Geschwistern eine Therapie?

    "Ja, denn die normalen Bezugspersonen der Kinder - die Eltern - sind selbst belastet und überfordert mit ihren Emotionen. Die Kinder behalten vieles bei sich, weil sie die Eltern nicht zusätzlich belasten wollen und fühlen sich erst recht alleine gelassen. Auch extreme Reaktionen können aus der Trauer folgen, weil die Kinder nicht mit ihren Emotionen umzugehen wissen. Auch hier kann es sehr hilfreich sein, eine Ansprechperson von außen zu haben, die belastet werden kann. Für Kinder gibt es einige Therapieangebote. Es braucht Zeit, sich Unterstützung zu suchen, aber ich empfehle, diesen Schritt so früh wie möglich zu tun."

    Welchen Rat haben Sie für Eltern, denen sowas passiert?

    "Zunächst ist es wichtig, sich wahrzunehmen: Was brauche ich? Erholung, Bewegung? Will ich sprechen oder schweigen? Das ist chaotisch und braucht Zeit, um eine Orientierung über die neue Lebenssituation zu bekommen. Gut ist, wenn es ein soziales Netzwerk gibt. Auch hier wieder mein Rat, sich jemanden von außen an die Seite zu holen, wo ich meinen Gefühlen Raum geben kann. Besonders im aktuellen Fall, wo man nicht alleine trauern kann, sondern eine Familie da ist, die weiterhin gemanaged werden muss. Anhand meiner Erfahrung kann ich sagen, es ist hilfreich, jemand Außenstehenden an der Seite zu haben."

    "Und solange im aktuellen Fall die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind, kann eine Verarbeitung noch gar nicht stattfinden. Momentan geht es darum, eine Stabilität zu finden. Eine Verarbeitung kann erst wirklich dann beginnen, wenn alle Ermittlungen abgeschlossen sind und die Familie zur Ruhe kommen kann."

    Wie soll man Eltern begegnen, denen sowas passiert ist? 

    "Das ist eine sehr wichtige und zugleich herausfordernde Frage. Wie so oft ist auch hier das Mittelmaß die richtige Antwort. Es ist weder gut, die Betroffenen zu meiden oder das Ereignis totzuschweigen noch unterunterbrochen sie nach ihrem Befinden zu fragen oder aggressiv Hilfe anzubieten. Es braucht Feingefühl und Empathie. Am besten ist es, Präsenz zu zeigen und zu vermitteln, dass man da ist."

    Wenn Sie Opfer von Gewalt sind, rufen Sie um Hilfe!
    24-Stunden Frauenhelpline: 0800 222 555
    24-Stunden Frauennotruf Wien: 01 71 71 9
    Weisser Ring - Verbrechensopferhilfe: 01 7121405
    Opfer-Notruf: 0800 112 112

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