Welt

"Wir laufen Gefahr, in zweiten Lockdown zu geraten"

Maskenpflicht und Gäste-Obergrenze in Klubs: In der Schweiz fordert der Bund die Kantone zum Handeln auf, oder ein Machtwort droht.

20 Minuten
Teilen
Die Maskenpflicht könnte bald auch außerhalb der Öffis zum Zug kommen.
Die Maskenpflicht könnte bald auch außerhalb der Öffis zum Zug kommen.
Reuters

Die Maskenpflicht könnte in der Schweiz bald auch außerhalb des Öffentlichen Verkehrs zum Zug kommen. Am Donnerstag forderte der Bund die Kantone zum Handeln auf. Bundesamt-für-Gesundheit-Chef (BAG) Pascal Strupler empfahl aufgrund der steigenden Fallzahlen eine Maskenpflicht in allen Läden, eine Obergrenze von 100 Personen in Clubs sowie eine Erfassung der Gästedaten in Restaurants.

Gegenüber "20 Minuten" begrüßen mehrere Fachleute den Appell des Bundes. Für Gesundheitsökonom Willy Oggier kommt er aber zu spät. "Die Fallzahlen hinken den Ansteckungen immer hinterher. Wenn wir nicht die Schraube anziehen, laufen wir Gefahr, in einen erneuten Lockdown zu geraten."

"Systemversagen zeigt sich"

Für ihn zeigt sich in der Pandemie ein Systemversagen in der Schweiz: "Die Kantonsregierungen sind vom Volk gewählt. Darum zaudern sie bei unpopulären Entscheiden, weil sie die Wiederwahl im Hinterkopf haben." Die Kantonsregierungen täten sich auch darum schwer damit, Öffnungen rückgängig zu machen, weil der Druck der Wirtschaft groß sei. "Einige Kantone haben nicht verstanden, dass die volkswirtschaftlichen Schäden bei einem erneuten Lockdown noch viel größer wären."

Dabei seien die Forderungen des BAG noch "brav". "Die erweiterte Maskenpflicht kennen andere Länder schon längst. Ringen sich die Kantone nicht bald zum Handeln durch, wird der Bundesrat wieder eingreifen und die außerordentliche Lage ausrufen müssen." Auch der Tessiner Infektiologe Christian Garzoni sagt: "Die Masken und die Obergrenze in Clubs haben praktisch keine Nebenwirkungen und sind überfällig." Sie würden noch stärkere Maßnahmen verhindern.

"Verantwortung nicht abschieben"

Geht es nach Marcel Tanner, Epidemiologe der wissenschaftlichen Covid-Taskforce des Bundes, sollten die Kantone und "wir alle" schnell handeln. "Jetzt ist sicher Pragmatismus gefragt. Alle sitzen im gleichen Boot. Lösungen sollen nicht in einer Woche, sondern schon morgen umgesetzt werden", sagt Tanner. Es sei der falsche Zeitpunkt, um Rollen und Verantwortungen einander abzuschieben.

Er würde es auch begrüßen, wenn sämtliche Großverteiler sofort für die Kunden eine Maskenpflicht einführen würden. "So gingen sie mit gutem Beispiel voran. Andere Läden würden bestimmt automatisch nachziehen." Auch an öffentlichen Orten wie in Bahnhofshallen erachte er eine Maskenpflicht als sinnvoll.

Rudolf Hauri, Präsident der Vereinigung der Kantonsärzte und Kantonsärztinnen der Schweiz, wehrte sich an der Medienkonferenz gegen den Vorwurf, nichts zu tun. Die Kantone würden die empfohlenen Maßnahmen prüfen und sich abstimmen. Es handle sich um eine differenzierte Strategie, sagte er. "Die Kantone versuchen, lagegerecht zu handeln. Es hat keinen Sinn, strenge Maßnahmen durchzusetzen, wenn sie fast keine Fälle haben." BAG-Boss Pascal Strupler betonte: "In keinem der Kantone wird geschlafen."

Das sagen die Großverteiler

Die Migros beobachtet die Situation. Man folge den Weisungen der Kantone, sagt Migros-Sprecher Tristan Cerf. Dabei bezieht er sich auf die bereits umgesetzte Maskenpflicht beim Einkaufen in Genf, im Jura und in der Waadt. "Wir setzen bei unseren Schutzkonzepten vor allem auf Abstandhalten und Handhygiene. Dies war bis jetzt sehr erfolgreich." Sollte die Maskenpflicht kommen, würde die Migros diese selbstverständlich umsetzen. Ähnlich klingt es bei Coop. "Bei einer allfälligen Maskenpflicht in den Verkaufsstellen sind wir schweizweit vorbereitet", sagt Rebecca Veiga, Leiterin der Medienstelle.

Drei verschiedene Lagen

Das Epidemiengesetz sieht in der Schweiz drei verschiedene Stufen vor. Je nach Lage hat der Bundesrat mehr oder weniger Kompetenzen. Derzeit gilt nach der außerordentlichen wieder die besondere Lage.

Normale Lage

In der normalen Lage sind grundsätzlich die Kantone für das Anordnen von Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von übertragbaren Krankheiten zuständig. Die Befugnisse des Bundes sind begrenzt. Sie umfassen etwa die Bereiche Information und Empfehlungen sowie Maßnahmen bei der Ein- und Ausreise.

Besondere Lage

Der Bundesrat hat in einer besonderen Lage die Kompetenz, gewisse Maßnahmen selbst anzuordnen. Zuerst hört der Bundesrat aber die Kantone an.

Außerordentliche Lage

Sind bei einer außerordentlichen Gefährdung der öffentlichen Gesundheit weitere Maßnahmen notwendig, kann der Bundesrat diese gestützt auf das Epidemiengesetz anordnen, ohne die Kantone anzuhören. Diese Lage ermöglicht dem Bundesrat, ohne Grundlage in einem Bundesgesetz Polizeinotverordnungsrecht zu erlassen.

1/5
Gehe zur Galerie
    Corona-Cluster St. Wolfgang im Salzkammergut: Infektionsfälle wurden in insgesamt 10 Unterkünften und Lokalen gemeldet (24. Juli 2020)
    Corona-Cluster St. Wolfgang im Salzkammergut: Infektionsfälle wurden in insgesamt 10 Unterkünften und Lokalen gemeldet (24. Juli 2020)
    picturedesk.com/APA/Barbara Gindl