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Wiener Polizist sah Terroristen in die Augen und schoss

Polizist Christian H. (49) spricht über die Nacht, in der der Terror nach Wien kam. Das bewegende Interview – aus der Sicht eines Menschen in Uniform. 

Maxim Zdziarski
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    Polizist Christian H. (49) schoss mit seinen Kollegen auf den Attentäter in Wien.
    Polizist Christian H. (49) schoss mit seinen Kollegen auf den Attentäter in Wien.
    Helmut Graf

    Letzten Montag fing gegen 20 Uhr ein Attentäter (20) mit einer Waffe an, beim Schwedenplatz wild um sich zu schießen. Bei dem Terror-Anschlag sind vier Menschen ermordet und 23 weitere zum Teil schwer verletzt worden. Nach rund neun Minuten konnte der Täter ausgeschaltet werden. "Heute" sprach mit Gruppeninspektor Christian H. (49), der als einer der ersten Polizisten am Tatort eintraf und sich mit dem Terroristen einen Schusswechsel lieferte. Der 49-jährige Polizist aus der Wiener Innenstadt erzählt in einem bewegenden Interview von jener Nacht, in der der Terror nach Wien kam. 

    Ich hatte an diesem Tag mit zwei Kollegen Streifendienst mit besonderem Augenmerk auf den Verkehr. Um 20 Uhr waren wir gerade auf dem Weg zu unserem Zivilfahrzeug, als wir über Funk mitbekamen, dass die Landesleitzentrale massiv Sektorwägen für den ersten Bezirk anforderte – mit dem Zusatz: Mann schießt mit Schrotflinte um sich. Gleichzeitig wurden die Bezirkstreifenwägen angewiesen, zum Einsatzort am Bermudadreieck zu fahren, weil dort massiv geschossen wurde.

    Kaum waren wir in unserem Fahrzeug, wurde ein Notstopp ausgerufen. Das bedeutet, dass sämtliche Streifenwagen stehen bleiben müssen, um die schwere Schutzausrüstung anzuziehen. Weil wir allerdings in einem Verkehrsdienst-Wagen unterwegs waren, hatten wir diese nicht an Bord. Kurz darauf hörten wir über Funk, dass ein Kollege angeschossen wurde mit der Bitte um dringende Unterstützung am Morzinplatz. Dutzende, wenn nicht hunderte Menschen waren zu dem Zeitpunkt bereits auf der Flucht. Ab da wussten wir: Hier sind alle in massiver Lebensgefahr. Für uns war klar, wir setzen die Einsatzfahrt zum Morzinplatz fort. 

    "Er wird nicht aufgeben, bis er erschossen wird"

    Bei Terror- und Amok-Lagen – zu diesem Zeitpunkt war uns bereits bewusst, dass es sich um eine solche handeln muss – ist ein sogenanntes "täterorientiertes Vorgehen" vorgesehen. Da soll man sich nicht um Verletzte kümmern, sondern primär den Täter lokalisieren, um ihn so schnell wie möglich zu stoppen, oder ihn zumindest örtlich zu binden. 

    Als wir am Tatort eintrafen, nahmen wir den verletzten Kollegen wahr, der bereits im Vorfeld beschossen wurde. Wir haben uns nicht um ihn kümmern können, weil aus der Richtung des Parks tiefe und dumpfe Schüsse zu hören waren. Also sprangen wir aus unserem Streifenwagen und liefen tief gebückt mit gezogenen Pistolen in Richtung des Täters. Mir war klar: Wenn er schießt, müssen sich dort Personen befinden. Am Franz-Josefs-Kai suchten wir Deckung – die sich später übrigens als schmaler Baum und eine Mülltonne aus Plastik entpuppte. In diesem Moment kam der Täter in unser Blickfeld und drehte sich zu uns. Er trug eine weiße Oberbekleidung, einen schwarzen Bart und hatte eine Langwaffe bei sich. Mir wurde schlagartig bewusst: Der wird nicht aufgeben, ehe er nicht selbst erschossen wird. 

    Als er zu uns blickte, eröffnete er aus etwa 60 Metern das Feuer auf uns. Wir feuerten zu dritt zurück und zwangen ihn so, sich in eine Ecke zurückzuziehen. Weil wir selbst keine Schutzbekleidung trugen, zogen auch wir uns vorsichtig zurück, um Distanz zu gewinnen. Leider gab es immer noch keine geeignete Deckung. 

    Im Augenwinkel sah ich dann zwei voll ausgestattete Stoßtrupps der WEGA vorrücken. Wir zogen uns zurück zu unserem Fahrzeug. Es war mir klar, dass nun die schwerbewaffneten Profis vor Ort sind. Aus diesem Grund stiegen wir ins Auto, um im Bereich der Salztorbrücke den Verkehr aufzuhalten. Nachdem meine Kollegen und ich aus der unmittelbaren Gefahrenzone waren, übernahmen wir also diese Aufgabe, um uns nach dem Schusswechsel wieder etwas zu beruhigen – und das war gut so. Auch, wenn man weiß, man befindet sich selbst in Lebensgefahr, ist es nicht einfach, auf einen Menschen zu schießen. 

    "Heute": Wie geht man mit der Angst um?

    Die Angst ist zwar dort, aber die Aufgabe steht im Vordergrund. Nach dem Schießen kommt die Angst wieder zurück und man denkt sich: Ich hätte da jetzt sterben können! Durch Glück sind wir, bis auf den einen Kollegen, nicht getroffen worden. Aber wir haben es, dank der Polizisten des ersten Bezirks, geschafft, den Täter so stark zurückzuhalten, dass er in keine Richtung mehr weg konnte. Im Nachhinein betrachtet hätten wir es nicht über das Herz gebracht, uns in einer Ecke zu verstecken, bis er zu schießen aufhört. Wenn er in der Zeit andere Personen getötet oder verletzt hätte... (Denkpause) mit dem kann ein Polizist wahrscheinlich schwer umgehen. Also ich könnte mit dem nicht leben. 

    "Heute": Wie lang dauerte der Schusswechsel mit dem Täter?

    Gefühlt dauerte das etwa 1,5 Minuten. Die anderen Kollegen, die vor uns vor Ort waren, die haben sich bereits länger einen Schusswechsel geliefert. 

    "Heute":  Wie fühlten sich diese 1,5 Minuten an?

    (Denkpause)... so muss sich die Hölle anfühlen. Genauso fühlt man das. Ich habe in diesem Moment an meinen Freund gedacht, der vor Jahren erschossen worden ist. Instinktiv dachte ich: Nein, nicht mit mir. Ich lasse mich hier sicher nicht erschießen. Aber man muss es machen. Dafür wird man bezahlt. Wie in den Trainingseinheiten, geht man dann täterorientiert nach vorne und bekommt eine Art Tunnelblick. Das ist der Beschützerinstinkt des Polizisten, da hinzugehen, wo keiner mehr hingeht. Das ist Instinkt.

    Ich habe mich später bei den Kollegen entschuldigt, dass ich sie in diese Gefahr gebracht habe. Aber auch sie waren sich einig, dass sie das gleiche getan hätten. Es hätte uns mehr belastet, wenn wir uns versteckt und gewartet hätten, bis der Täter aufhört zu schießen.

    Junger Polizist in Todesangst

    Kurz bevor wir ins Fahrzeug gestiegen sind, wurden wir auf einen mir unbekannten Polizisten aufmerksam, der am Boden Schutz suchte. Er war sehr jung, vielleicht 21 Jahre alt und sagte voller Angst zu mir, dass er nicht sterben möchte. Sein Gesicht werde ich nie vergessen. Die Todesangst in seinem Gesicht, geht mir bis heute emotional sehr nahe. Ich konnte ihn aber etwas beruhigen, ehe wir ins Auto stiegen. Was er dann machte, habe ich leider nicht mehr in Erinnerung.

    Beim Rückzug hab ich den Kollegen gesagt, sie sollen sich abtasten und schauen, ob sie nicht verletzt sind. In so einer Situation könnte man durch das Adrenalin eine Verletzung womöglich gar nicht wahrnehmen. Glücklicherweise verneinten das beide. 

    "Heute":  Wie war das, als Sie dem Täter in die Augen blickten?

    Es hat sich angefühlt, als ob er mir in die Augen schauen würde. Ich hab sein Gesicht gespürt, seinen Bart und seine weiße Bekleidung wahrgenommen. Er schaute zu uns und hat einfach aus der Hüfte heraus losgeschossen. Ich wusste, jetzt sind wir da und haben vielleicht das Pech, dass wir erschossen werden. Aber wir mussten etwas tun und erwiderten das Feuer.

    "Heute":  Wie verarbeitet man solche Einsätze?

    Jeder macht das anders. Ich hab mich in der Polizeiinspektion um 7 Uhr morgens für einige Stunden schlafen gelegt. Danach machte ich mit der Kriminalpolizei die Tatortbegehung. Am Abend besuchten mich dann zwei Freunde, die auch bei der Polizei sind, und ich sprach mit ihnen über den Einsatz. Am Tag darauf war ich wieder im Dienst und am Wochenende war ich nochmals am Tatort. Die große Anteilnahme der Wiener war so unglaublich rührend. Der Zusammenhalt in der Bevölkerung hat mich selbst in der Trauer um das Geschehene ein bisschen glücklich gemacht. Das hilft.

    "Heute":  Wann haben Sie sich bei Ihrer Familie gemeldet?

    Um 21 Uhr schrieb mir ein Kollege aus Niederösterreich, ob es mir gut geht. Kurz darauf bekam ich über 70 Nachrichten von Freunden und Familie. Bei der Salztorbrücke haben wir dann mit den Kollegen etwas Zeit gehabt, unsere Angehörigen zu informieren, dass wir unverletzt sind. 

    "Heute":  Würden Sie heute etwas anders machen, als an jenem Abend beim Schwedenplatz?

    Sollte das in meinem Leben noch einmal passieren, würde ich genauso vorgehen. Was anderes bleibt mir auch nicht übrig. 

    Die Wiener Bevölkerung ist nach wie vor in tiefer Trauer und gedenkt der ermordeten Opfer beim Schwedenplatz. Gruppeninspektor Christian H. (49) bedankte sich im "Heute"-Gespräch abschließend bei all seinen Kollegen, die an diesem Abend heldenhaftes geleistet haben: "Ich bin sehr stolz auf die sieben Innenstadt-Polizisten, die, bis zum Einschreiten der WEGA, den Täter bekämpft haben. Danke."