Nur sieben Kilometer trennen die Menschen in Marhanez (Ukraine) von den russischen Besatzern. Zwischen ihnen ist die Front und der Fluss Dnjepr – das war es. Das dahinterliegende Atomkraftwerk Saporischschja hat Russland besetzt. Die Bedrohung ist allgegenwärtig: "Der Tod ist immer nur ein paar Sekunden entfernt", erklärt Hilfswerk International-Koordinator Heinz Wegerer, der derzeit an der Front unterwegs ist, im "Heute"-Interview.
Diese Woche ist es genau drei Jahre her, dass die Truppen von Kreml-Diktator Wladimir Putin in der Ukraine einmarschiert sind. Seitdem versorgen der Mühlviertler und sein Team die Menschen mit dem Nötigsten.
In Marhanez hat der Krieg alles verändert. Von der blühenden Industriestadt ist wenig übrig geblieben. Fast die Hälfte der 50.000 Einwohnerinnen und Einwohner sind seit der Invasion im Februar 2022 geflüchtet. Zurückgeblieben seien vor allem Ältere und alleinerziehende Frauen, deren Männer kämpften.
Mehrfach pro Woche nimmt Russland die Frontstadt ins Visier: Vom Abschuss am Kernkraftwerk Saporischschja bis zum Einschlag dauere es weniger als zehn Sekunden. "Da kannst du dich nicht in Sicherheit bringen", sagt der 36-Jährige aus Arbing (Bezirk Perg) nüchtern. "Entweder du hast Glück oder eben nicht." Wegerer hat dies selbst erlebt: Vor zwei Wochen entgingen er und seine Kollegen einem russischen Angriff nur knapp. Eine Stunde, nachdem sie eine neue Hilfseinrichtung besucht hatten, schlug dort ein Geschoss ein. Nur 20 Meter entfernt!
Mehr als 120 Einwohner von Marhanez seien seit 2022 in den Kämpfen gefallen, berichtete kürzlich der "Standard". Dazu kommen dutzende Zivilisten, die in den konstanten Angriffen getötet oder verwundet wurden.
Nach Einschätzung des Ukraine-Helfers fehlt es den Menschen neben einer guten Grundversorgung vor allem an Bildung und psychischer Unterstützung: Es gebe immer weniger Jobs, seit drei Jahren seien die Schulen geschlossen. Auch Homeschooling (digitaler Unterrichts übers Internet) sei aufgrund der häufigen Stromausfälle nur schwer möglich.
„Es gibt Zwölfjährige, die wieder bettnässen und Kinder, die jetzt oder gar nicht mehr reden.“Heinz WegererUkraine-Nothilfekoordinator bei Hilfswerk International
Mit österreichischer und internationaler Hilfe hat Hilfswerk International in Marhanez kürzlich den insgesamt fünften Help Point eröffnet. Neben Spiel-, Yoga- und Strickangeboten, gibt es dort auch dringend benötigte Hilfe von Psychologen.
Denn: 10 Millionen Menschen im Land leiden nach Angaben der Vereinten Nationen an psychischen Erkrankungen, über eine Million Kinder ist traumatisiert. "Die Menschen sind nach drei Jahren durchgehendem Druck und Belastung wirklich mit der Psyche am Ende", so Wegerers Einschätzung. In den Help Points sei dies besonders bei den Kindern erkennbar. "Es gibt bis Zwölfjährige, die wieder bettnässen und Kinder, die zu stottern anfangen", schildert der Österreicher. Andere würden gar nicht mehr reden.
Globale Politik, Waffenruhe, oder die ersten Gespräche über einen möglichen Frieden, wie sie Russland und die USA kürzlich in Saudi-Arabien geführt haben – "Heute" berichtete? Von all dem würden die Ukrainerinnen und Ukrainer nahe der Frontlinie wenig Notiz nehmen, berichtet der Ukraine-Helfer aus seinen Gesprächen. Vielen würden sich gegenüber der "großen Politik" ohnmächtig fühlen.
Eines sei aber vollkommen klar: Für einen echten Frieden müssten sich die russischen Truppen zurückziehen. "Was bringt es, wenn die Front eingefroren wird, die feindliche Truppen aber weiter direkt sieben Kilometer entfernt sind. Dann wird sich keiner sicher fühlen", warnt Hilfswerk International-Koordinator Heinz Wegerer.