"Ehrlich sein lohnt sich nicht mehr", sagt Ginette enttäuscht. Am Dienstagnachmittag hatte die Schweizer Seniorin aus Tramelan im Kanton Bern in einem Einkaufswagen ihres örtlichen Supermarkts einen vergessenen Aktenkoffer entdeckt. Nachdem sie ihn geöffnet hatte, entdeckte sie zwischen allerlei Zettelwerk auch zahlreiche Geldscheine.
"Als ich all das Geld sah, habe ich mich in die Lage des Besitzers versetzt. Ich habe nicht einmal nachgezählt. Ich bin sofort zur Polizei gegangen", erzählt die 77-Jährige. Dort erfuhr sie, dass es sich um 15.000 Franken – umgerechnet etwa 16.100 Euro – handelt. Danach ging Ginette. "Die Polizei wollte, dass ich auf den Herrn warte, aber ich wollte anonym bleiben."
Am nächsten Tag klopfte die Polizei – die als Vermittlerin fungierte – an die Tür der Seniorin, um ihr die Belohnung zu bringen. Ginette verschlug es die Sprache. "Laut dem Polizisten, der sich entschuldigte, soll der Besitzer des Koffers gesagt haben: '30 Franken, das reicht ihr.' Das hat mich verletzt …", empört sich die gutherzige Frau. Der Geizhals hatte sie mit rund 32 Euro abgespeist.
Die Bernerin hatte gehört, dass es üblich sei, dem Finder oder der Finderin von verlorenem Geld oder einem Gegenstand zehn Prozent als Belohnung zu geben. "Ich hätte das nie akzeptiert. Aber 30 Franken … das ist wirklich erniedrigend! Vor allem, weil ich mich beeilt habe, damit dieser Mann nicht zu lange gestresst ist."
Auf Anfrage bestätigt die Kantonspolizei Bern, dass am Dienstag "mehrere Tausend Franken" abgegeben worden seien, ohne den genauen Betrag zu nennen.
"Gemäß Artikel 722 des Zivilgesetzbuches hat die Person, die einen verlorenen Gegenstand oder Geld findet, Anspruch auf eine angemessene Belohnung", erklärt Mediensprecherin Lisa Schneeberger. "Aber das Gesetz legt keinen Prozentsatz fest. Die 10-Prozent-Regel ist ein informeller Brauch. Die Höhe einer allfälligen Belohnung liegt im Ermessen des Eigentümers."