Schütze schildert Begegnung

"Ich wich zurück" – Letztes Training mit dem Graz-Täter

"Ich schaute ihm ins Gesicht – da war nichts." So erlebte der Sportschütze Georg Tamm (65) das letzte Training mit dem Attentäter von Graz.
Christoph Weichsler
20.06.2025, 14:06
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Georg Tamm (65) war der letzte Mensch, der mit dem späteren Attentäter von Graz im Schützenverein eine Pistole in der Hand hatte. Im Interview mit "profil" schildert er jetzt seine Erlebnisse – und die sorgen für blankes Entsetzen. Denn was er damals erlebte, lässt ihn seither nicht mehr los. "Ich schaute ihm von der Seite ins Gesicht – da war nichts. Kein Ausdruck. Es war gruselig."

Tamm hatte dem jungen Mann, der sich im Verein als 25-Jähriger ausgab, beim Zielscheibentraining geholfen. "Ich borgte ihm meine Pistole, gab ihm Tipps, weil er gewackelt hat." Nach einem guten Schuss habe er ihn gelobt – und dabei die Leere in dessen Gesicht entdeckt. Tamm wich zurück. Kurz darauf beendete er die Übung. "Ich war froh, als die weiteren fünf Schuss verbraucht waren."

Letzter Kontakt – dann kam das Geständnis

Nach dem schaurigen Training passierte das, was Tamm heute noch beschäftigt: Der junge Mann sagte, dass er sich am Montag eine Waffenbesitzkarte holen werde. "Dafür brauchst du einen Psychotest", antwortete Tamm spontan. Doch die Antwort des jungen Mannes ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren: "Den hab ich schon." Tamm: "Ich konnte mir nicht vorstellen, wie so jemand den Test besteht."

Am selben Abend fuhr der Attentäter heim. Zum Training kam er nie mehr. Tamm war der letzte im Club, der mit dem späteren Massenmörder eine Waffe in der Hand hielt.

Ein Verein, viele Fragen

Drei Monate vor der Tat tauchte A. regelmäßig im Schützenverein auf – meist gegen 16 Uhr, um in der ruhigen Zeit unter Aufsicht zu trainieren. "Ich schätze, er kam etwa einmal pro Woche", so Tamm. Alles sei im Schussbuch dokumentiert. Auffällig: A. war nie an Gesprächen interessiert. "Er setzte sich immer ganz hinten ins Eck zum Safe und wartete schweigend auf seinen Schießwart."

Während der Vereinsobmann ihn später als "ruhig" und "gut erzogen" bezeichnete, sieht Tamm das völlig anders. "Er war wie von einem anderen Stern, völlig empathielos." Viele hätten ihn verkannt – auch, weil er so schweigsam war. "Ich kann schon nachvollziehen, dass ihn andere als 'liaben Buam' gesehen haben."

Training mit Gewehr? Das sorgte für Unbehagen

A. war kein Mitglied im Verein, sondern hatte sich über eine Tageskarte Zugang verschafft. Dass er sich später erkundigte, ob er auch mit einem Gewehr trainieren dürfe, irritierte. Tamm erinnert sich: "Man sagte mir, er wolle nicht nur mit Pistole, sondern auch mit seinem Gewehr kommen. Das geht bei uns aber nicht."

Erst im Nachhinein wurden vielen Mitgliedern diese Aussagen unheimlich. "Ein 'Zniachtl' mit einem Gewehr? Man hat halt angenommen, das sei vom Vater, wenn der ein Jäger ist." Einen richtigen Aufschrei gab es damals nicht – was heute bitter bereut wird.

Kritik am System: "Psychotest viel zu spät"

Für Tamm ist klar: Das gesamte System krankt an der falschen Reihenfolge. "Der Psychotest kommt am Ende, kurz vor der Waffenbesitzkarte. Aber nicht am Anfang, wenn jemand zu schießen beginnt." Man müsse das umdrehen.

Noch etwas hält er für fahrlässig: Dass Vereine eine Bescheinigung ausstellen dürfen, ob jemand mit Waffen unterwiesen wurde. Diese kann nämlich als Grundlage für die Waffenbesitzkarte dienen – und sei damit hochsensibel. Tamm: "Wenn die Regierung plant, den Zugang zu Waffen stärker auf Sportschützen zu beschränken, muss es auch strengere Kontrollen in den Vereinen geben."

Er wollte nur schießen – nicht reden

Georg Tamm bezeichnet sich nicht als Waffennarr, sondern als passionierter Sportschütze. Früher war er Manager in der Telekom-Branche. Heute trainiert er regelmäßig – aus sportlichem Ehrgeiz, wie er sagt. Doch das, was er mit A. erlebt hat, überschattet alles.

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"Es kann nicht unsere Aufgabe im Verein sein, Leute psychologisch zu bewerten", sagt er. Gleichzeitig gibt er zu: "Wir waren unbewusst ein Glied in einer langen Kette." Elf Menschen starben beim Amoklauf in Graz. Und Tamm war einer der wenigen, die A. noch kurz zuvor erlebten – mit der Waffe in der Hand.

{title && {title} } CW, {title && {title} } Akt. 20.06.2025, 17:23, 20.06.2025, 14:06
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