Es sind ungewohnte Bilder aus der kriegsgebeutelten Ukraine: Tausende Menschen demonstrieren seit vergangenem Dienstag in Kiew, Lwiw, Odessa und Dnipro gegen ihren eigenen Präsidenten. Sie skandierten Parolen wie "Korruption liebt die Stille" und "Ukraine ist nicht Russland!" Es sind die größten Proteste gegen Wolodymyr Selenskyj seit Beginn der russischen Vollinvasion im Februar 2022.
Hintergrund ist ein Gesetz zur Oberaufsicht über die beiden Anti-Korruptionsbehörden NABU und SAPO. Diese sollten dem Generalstaatsanwalt unterstellt werden – ein Verbündeter von Selenskyj. Indirekt würden die Anti-Korruptionsbehörden so also von der Regierung kontrolliert.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat mit einem Gesetz den Unmut der eigenen Bevölkerung auf sich gezogen. Die zwei Anti-Korruptionsbehörden im Land sollen künftig indirekt von der Regierung kontrolliert werden.
Die Menschen befürchten, dass Selenski hier einen Machtkampf austrägt und zu viel Macht auf sich vereinen möchte. Osteuropa-Experte Alexander Dubowy beobachtet die Entwicklungen mit Sorge – ist aber erfreut von der ukrainischen Zivilgesellschaft.
"Wir bemühen uns so sehr ein freies Land zu sein, die Demokratie hier zu schützen, diesen Krieg zu gewinnen und ein normales Leben zu führen. Es reicht, dass die Russen versuchen, uns unsere Freiheit und unser Geld zu nehmen", erklärt eine junge Teilnehmerinnen an den seit bald einer Woche anhaltenden Protesten in der Hauptstadt.
Die große Befürchtung: Selenskyj habe mit der raschen Verabschiedung des Gesetzes laufende Ermittlungen gegen Personen in seinem Umfeld unterbinden wollen. Es soll die Korruptionsjäger in ihrer Arbeit stark einschränken.
Der öffentliche Druck hatte jedoch Wirkung, Selenskyj hat inzwischen eingelenkt und gemeinsam mit den beiden staatlichen Anti-Korruptionsbehörden eine Novelle erarbeitet. Diese werde von den Korruptionsjägern gelobt, heißt es in einem Bericht des "Ö1-Morgenjournal" am heutigen Montag.
Schon am Donnerstag (31. Juli) soll die Änderung in einer Sondersitzung im Parlament – dieses ist eigentlich bereits in Sommerpause – beschlossen werden.
Gegenüber dem Schweizer Nachrichtenportal "20 Minuten" ordnet der Osteuropa-Experte Alexander Dubowy die Entwicklungen rund um das Gesetz zur Oberaufsicht über die beiden Anti-Korruptionsbehörden ein. Das gesamt Interview im Wortlaut:
Alexander Dubowy: Eine autoritäre Machtkonzentration zugunsten des Präsidenten und seines inneren Kreises. Das ist auch demokratiepolitisch eine sehr bedenkliche Entwicklung. Konkret fürchten die Demonstrierenden, dass Korruptionsermittlungen künftig blockiert werden könnten, sobald sie sich gegen Mitglieder von Selenskis innerem Kreis richten.
Er sagt, es gehe darum, den russischen Einfluss auf die Behörden einzuschränken. Beweise für diesen Einfluss ist er bisher allerdings schuldig geblieben.
Kann Selenskyj keine Beweise liefern, muss er sich dem Verdacht stellen, dass hier Machtpolitik betrieben wird auf Kosten von Korruptionsermittlungen. Einige Menschen in Kiew glauben, dass Selenskyjs Entscheid mit Ermittlungen gegen den stellvertretenden Regierungschef, einem engen Vertrauten des Präsidenten, zu tun hat. Ob sich das bewahrheitet, bleibt abzuwarten. Die Reaktion des Generalstaatsanwalts war indessen überraschend. Er hat behauptet, die Reform nicht angestoßen zu haben. Erfreulich ist für mich die Reaktion der Zivilgesellschaft.
Die Demonstrationen zeigen, dass viele Menschen in der Ukraine tatsächlich den Weg hin zu einer gefestigten Demokratie gehen wollen. Denn da ist das Land noch lange nicht. Selenskyj führt einen Zweifronten-Krieg: gegen Russland außen und gegen die Korruption innen.
Korruption hat in der Ukraine strukturellen Charakter, sie ist ein Problem, dessen Wurzeln tief in der Sowjetzeit liegen. Die Korruption zu besiegen, wird eine Aufgabe von Generationen sein, das wird nicht in ein paar Jahren passieren – und schon gar nicht, während das Land einen Krieg um das eigene Überleben führt. Auch hier ist aber die Zivilgesellschaft positiv hervorzuheben: Viele der wichtigsten Korruptionsermittlungen der letzten Jahre wurden durch ukrainische Investigativjournalisten angestoßen.
Das könnte Folge eines internen Machtkampfes sein, und das ist mit großer Sorge zu beobachten. Natürlich kommen jetzt Vorwürfe auf, Selenskyj sei korrupt, autoritär und strebe mehr Macht an. Gleichzeitig sollten wir uns hüten, vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr zu sehen. Seit seiner Wahl sind viele wichtige Schritte gegen Korruption unternommen worden. Und das primäre Ziel ist der Kampf gegen Russland.
Alexander Dubowy ist Experte für internationale Politik- und Sicherheitsfragen mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und den GUS-Raum. Er verfügt über mehr als zehn Jahre Erfahrung in Forschung, Beratung und Policy-Analyse.
Der promovierte Jurist studierte in Wien und Moskau und war an renommierten Universitäten und Institutionen wie der Universität Wien, MGIMO und der Landesverteidigungsakademie Wien tätig.
Geboren in Semipalatinsk (heute Semei, Kasachstan), wuchs er in Estland und Österreich auf. Dubowy ist international vernetzt und arbeitet mit führenden Think Tanks und Forschungsinstitutionen zusammen.
Das bleibt abzuwarten. Von landesweiten Massenprotesten sind wir derzeit noch weit entfernt. Am Mittwochabend kündigte Selenskyj ja bereits eine neue Gesetzesvorlage oder Korrekturen an. Das ist wohl vor allem aufgrund der Proteste passiert. Selenskyj will den Demonstrierenden die Ängste vor einer autoritären Wende nehmen.