"Meine Damen und Herren, denken Sie einmal nach: Vielleicht ist dieser Sommer der letzte Sommer, den wir noch im Frieden erleben". Mit diesem Satz sorgte Sönke Neitzel (57) in der "phoenix runde" von ARD und ZDF Anfang März für Aufregung. Seither sieht er sich in den Sozialen Medien mit "Kriegstreiber"-Vorwürfen konfrontiert.
Dabei hatte der Militärhistoriker an der Universität Potsdam nur davor gewarnt, dass Europas Streitkräfte auf einen möglichen russischen Angriff derzeit nur ungenügend vorbereitet wären. "Ich habe in der Phoenix-Runde von Szenarien gesprochen, mit denen wir planen sollten, damit wir nie wieder überrascht werden wie im Februar 2022", kontert Neitzel im "Zeit"-Interview.
Er konstatiert: "Die Zukunft ist völlig offen, aber wir müssen so handeln, als ob wir wirklich bedroht sind. Wir sollten mit bestimmten Szenarien einer bestimmten Breite rechnen, was nicht heißt, dass der Worst Case eintritt."
Szenarien derer gibt es viele. Eines davon wäre ein Überraschungsangriff Russlands im September 2025. Da fährt Wladimir Putin wieder seine Armee an der belarussischen Grenze zum Baltikum auf, um dort beim großen Militärmanöver "Sapad 25" Krieg gegen die NATO zu proben. Im Februar 2022 nutzte der Kreml-Kriegstreiber eine ähnliche Militärübung ("Entschlossenheit der Union — 2022") zur Vorbereitung auf seine großangelegte Invasion der Ukraine.
Von offizieller Seite geben sich Russland und Belarus betont zurückhaltend. Statt wie noch 2021 rund 200.000 Soldaten aufzufahren, sollen es heuer nur noch etwa 13.000 werden. Das "Sapad"-Manöver habe "ausschließlich defensiven Charakter", heißt es aus dem Kreml.
Wann bzw. ob es überhaupt zu einem russischen Angriff auf einen NATO-Staat kommt, ist aus heutiger und westlicher Sicht nicht abschätzbar. "Wir können nicht in Putins Kopf schauen", hält Neitzel fest. Klar sei aber: Putin will den Westen hybrid schwächen. In nicht allzu ferner Zukunft könnte er vielleicht auch die Verteidigungsbereitschaft der NATO militärisch auf die Probe stellen wollen.
Diese Einschätzung teilt auch Oberst Markus Reisner. Die europäischen Staaten würden von Russland "bewusst im Unklaren", erklärt der Bundesheer-Offizier gegenüber "t-online". So könnte Putin etwas im Verborgenen vorbereiten, oder später durch eine unerwartet große Truppenpräsenz alle überraschen.
Reisner rechnet damit, dass der Kreml seine Muskeln spielen lassen will: "Putin will zeigen, dass er diese Fähigkeiten im Fall der Fälle auch tatsächlich einsetzen kann."
Ob es tatsächlich eine militärische Gefahr für die NATO-Ostflanke gebe, das sei nur schwer einzuschätzen, hält auch Reisner fest. Aber: "Russland wird auch parallel zu dem Manöver aktiv werden." Gemeint sind damit weitere Desinformationskampagnen und hybride Angriffe, auch Sabotageaktionen.
Deutschland ist schon länger Ziel solcher russischer Attacken, die Bundeswehr beobachtet die Entwicklung mit wachsamen Augen.
Seit einigen Monaten ist die neue Panzerbrigade 45 nahe Vilnius zum Schutz des Baltikums abgestellt. Doch wären Deutschlands Soldaten bereit, im Falle eines Angriffs Moskaus auf einen NATO-Mitgliedstaat russische Soldaten zu töten? Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) beantwortet diese Frage knallhart: "Wenn die Abschreckung nicht funktioniert und Russland angreift, wird es dann passieren? Ja!"