Ukraine

Heeres-Oberst sieht "gefährliche Eskalationsspirale"

Kann die Ukraine noch gewinnen? Wenn Ja, wie? Bundesheer-Experte Markus Reisner überrascht zum 175. Tag des Krieges mit einer dramatischen Analyse.

Roman Palman
Oberst Markus Reisner ist Leiter der Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie.
Oberst Markus Reisner ist Leiter der Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie.
Screenshot YouTube / Bundesheer

Seit Beginn des Krieges beobachtet Bundesheer-Oberst Markus Reisner die Kämpfe in der Ukraine unter dem Gesichtspunkt seiner militär-taktischen Expertise. Jetzt, am 175. Tag der Invasion, zieht der Leiter der Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie Wiener Neustadt eine brisante Zwischenbilanz.

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Im sechsten Monat des Krieges um die Ukraine stelle sich dieser blutige und verheerende Konflikt nach wie vor als ein "Wechselbad der Gefühle" dar. Im Meer der Propaganda-Meldungen beider Seiten werde es zunehmend schwerer, den Überblick zu behalten, so Reisner zu Beginn seiner auf "bundesheer.at" veröffentlichten Analyse. Und auch die Aufmerksamkeit der Welt, so der Offizier, würde sich anderen, neueren Konflikten zuwenden, welche vermehrt die Titelseiten füllen: "Wie bei länger andauernden Konflikten üblich, tritt zudem eine gewisse Resignation in der regionalen und globalen Medienberichterstattung ein".

Kein Kollaps im Russen-Militär

Dazu komme, dass westliche Nachrichtendienste laufend über die gravierenden Schwächen der russischen Einsatzführung berichten und sogar den baldigen Zusammenbruch des russischen Angriffes voraussagen würden. "Doch dieser Kollaps tritt nicht ein. Das Gegenteil scheint der Fall", schreibt Reisner mit Verweis auf die langsam aber stetig vorrückenden Russen im Donbass und die weiter funktionierende Verteidigung der eroberten Stadt Cherson.

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    Ukrainische Verteidigungskräfte beim Abfeuern einer M777-Haubitze in der Region Charkiw Ende Juli 2022.
    Ukrainische Verteidigungskräfte beim Abfeuern einer M777-Haubitze in der Region Charkiw Ende Juli 2022.
    REUTERS

    Innerhalb Russlands habe Wladimir Putins Medienmaschinerie inzwischen sogar den nach gravierenden Pannen notwendig gewordenen Abzug seiner Truppen aus dem Raum Kiew seiner Bevölkerung erfolgreich als Teil des Gesamtplans der "Demilitarisierung" der Ukraine verkauft.

    "Betrachtet man die Kämpfe im Detail, so erkennt man aus militärischer Sicht eines: Die westlichen Waffenlieferungen zeigen zwar Wirkung, aber noch immer nicht in durchschlagender und nachhaltiger Form. Das Ergebnis muss messbar sein." Erst bei einem vollumfassenden Stopp der russischen Angriffe oder bei einem Zurückweichen der russischen Truppen wie im März bei Kiew könne man "aus nüchterner, objektiver und militärischer Sicht tatsächlich von einer Wende im Krieg sprechen".

    16 HIMARS auf 1.200 Kilometer langer Front

    Sein Fazit in diesem Punkt ist vernichtend: "Die bis jetzt eingetroffenen westlichen Waffenlieferungen bewirken, dass die ukrainischen Streitkräfte 'zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben haben'." Wenn die 16 US-Mehrfachraketenwerfer vom Typ HIMARS so durchschlagende Erfolge liefern würden, wie es Kiew propagiert, dann stelle sich für ihn nur die Frage: "Warum liefern die USA nicht mehr?"

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      Diese Bilder zeigen das Abfeuern des US-Systems HIMARS durch ukrainisches Militär spätestens ab dem 24. Juni 2022.
      Diese Bilder zeigen das Abfeuern des US-Systems HIMARS durch ukrainisches Militär spätestens ab dem 24. Juni 2022.
      Pavlo Narozhnyy/via REUTERS

      Das Grundproblem der Ukraine, nämlich den Mangel an modernen Waffen, habe der Westen immer noch nicht ausreichend ausgeglichen. Wichtige Kernfähigkeiten wie Flugabwehr mit hoher Reichweite, seien gar nicht, oder in zu geringer Stückzahl geliefert wurden. Das könnten die schwer angeschlagenen ukrainischen Luftstreitkräfte trotz ihres "mutigen" Einsatzes kaum ausgleichen. Und auch auf dem Boden würden die vielen Verluste immer mehr das Kampfgeschehen beeinflussen: "Viele Berufssoldaten sind gefallen oder verwundet. Der personelle Ersatz wird oft nach unzureichender Ausbildung und mit kaum vorhandener Ausstattung an die Front geschickt."

      Die bisher gelieferten Artilleriesysteme würden laufend an der knapp 1.200 Kilometer langen Frontlinie verschoben werden müssen, um die gewünschten Effekte zu erzielen. Da hinken nicht nur die Munitionslieferungen hinterher, sondern die ukrainische Generalität müsse – trotz immenser Aufklärungsunterstützung durch die USA – immer entscheiden, welchen Frontabschnitt sie dann wieder ungeschützt lassen müsse.

      Reisner zieht dabei Parallelen zum Ersten Weltkrieg: "In der Ukraine sind auf dem Gefechtsfeld zudem eindeutig alle Merkmale eines zermürbenden Abnützungskrieges erkennbar. Wie vor knapp einhundert Jahren bestimmt der Einsatz der Artillerie die Situation an der Front. Das laufenden 'Trommelfeuer' soll die gegnerischen Stellungen 'sturmreif' schießen. In der Tiefe des Gegners versucht man, dessen Nachschub zu unterbrechen oder zu zerstören. Eisenbahnlinien, Brücken und Bahnhöfe haben hohe Bedeutung." Die hochmoderne Technik, die dabei zum Einsatz komme, täusche nur darüber hinweg, "dass der Krieg nach wie vor mit äußerster Brutalität geführt wird."

      Russen rücken sofort nach

      Für die Ukrainer ein riesiges Problem: Wird ein Abschnitt der Front von den ukrainischen Streitkräften zu stark 'ausgedünnt', steigt dort sofort der russische Druck. Das sei derzeit westlich von Donetsk bei Marjinka, Pesky und Awdijiwka zu sehen, wo Putins Truppen in den letzten Tagen begonnen hätten, die starke erste ukrainische Verteidigungslinie zu durchbrechen. Gelingt ihnen das nachhaltig, könnte sich der Kessel von Lyssytschansk hier bald wiederholen.

      Westlich des überschrittenen Siwerskij-Donetsk-Flusses stünden die russischen Truppen nun vor Sewersk und der wesentlich schlechter ausgebauten zweiten Verteidigungslinie. Hinter der dritten Linie bei Slowjansk und Kramatorsk wäre dann der Weg für die Russen bis zur natürlichen Barriere des Dnepr frei. "Ein Durchbruch in der Tiefe, z.B. bei Izjum hinter die 'dritte' Linie würde zu einem ukrainischen Desaster im Donbass führen. In den Wäldern von Izjum liefern sich ukrainische und russische Spezialeinsatzkräfte im Verborgenen ein blutiges Gemetzel."

      Spektakuläre Angriffe der Ukrainer, wie die schwere Beschädigung der wichtigen Brücken über den Fluss Dnepr bei Cherson, die bis jetzt über fünfzig erfolgreichen Angriffe auf russische Munitionslager sowie nicht zuletzt die Zerstörung von Flugplätzen und Munitionslagern auf der Krim seien zwar für spektakuläre Schlagzeilen geeignet, aber hätten bisher noch keine Einstellung der Kämpfe erzwingen können.

      "Gefährliche Eskalationsspirale"

      "Die Angriffe auf der Krim zeigen, dass die ukrainische Seite die Achillesferse der Russen erkannt hat. Der Erfolg wird sich aber erst in Wochen messen lassen", sagt Reisner. Er dämpft aber die Erwartungen: "Ein nachhaltiger Abwehrerfolg oder gar die Vorbereitung und Durchführung einer schlagkräftigen, entscheidenden ukrainischen Offensive – wie für den Süden angekündigt – ist immer noch nicht in Sicht." Es stelle sich aber die Frage, ob die Russen dafür Vergeltung üben würden.

      Das, sowie die gegenseitigem Schuldzuweisungen was die Zerstörung eines Lagers voller ukrainischer Kriegsgefangener sowie die unklare Situation um das AKW Saporischschja seien "Zeichen einer überaus gefährlichen Eskalationsspirale".

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        Am 29. Juli wurde das von Russland-freundlichen Separatisten kontrollierte Straflager Oleniwka im Oblast Donezk durch Explosionen und Feuer zerstört.
        Am 29. Juli wurde das von Russland-freundlichen Separatisten kontrollierte Straflager Oleniwka im Oblast Donezk durch Explosionen und Feuer zerstört.
        AP / picturedesk.com

        Die russischen Angriffe bei Donetsk in Richtung Westen, wo jetzt auch Brandmunition zum Einsatz kommt, seien hier in jedem Fall im Zusammenhang zu sehen. Der Bundesheer-Offizier betont dabei die übermäßige Brutalität im Vorgehen der Russen: "Die Grundsätze des humanitären Völkerrechts werden immer massiver gebrochen oder völlig ignoriert. Im Gegenteil, der unterlegene Verteidiger muss in den asymmetrischen Kampf übergehen, will er überhaupt überleben."

        Westen zögert: Warten auf ein Putin-Angebot?

        Doch wie könnte die Ukraine überhaupt noch einen Sieg erringen? Alles liegt laut Reisner in der Hand des Westens: "Wenn nicht in den kommenden Wochen gesteigerte Stückzahlen hochmoderner Waffen in die Ukraine liefert, kann die Ukraine diesen Konflikt nicht für sich entscheiden." Solange es keine flächendeckende Flug- und Raketenabwehr gebe, sei jeder Gedanke an eine regionale militärische Wiederausrüstung "illusorisch". "Diese ist aber notwendig, wenn die Ukraine das verlorene Land wieder in Besitz nehmen möchte. Jene Gebiete, die sie notwendig braucht, um wirtschaftlich überleben zu können."

        Der Militärexperte kann über die Gründe der zögerlichen Waffenlieferungen auf Seiten des Westens nur spekulieren. Dies könne durchaus aber auch Kalkül sein. Eventuell wolle man abwarten, wie sich das Schlachtfeld nach dem Sommer präsentiere. "Ist Russland im Oblast Donezk erfolgreich, könnte es durchaus sein, dass es eine Bereitschaft zu Verhandlungen signalisiert. Das kann auch aus einer Situation der Erschöpfung heraus der Fall sein." Dann könnte es sein, dass Europa Druck auf Präsident Wolodimir Selenski ausübe, dem russischen Vorschlag zuzustimmen.

        "Kognitiver Krieg" an der Heimatfront

        Das größte Problem für die Ukrainer wird sein, dass sich der Westen – durchaus von Putin gewollt und erzwungen – in den kommenden Wochen wieder mehr auf die Probleme wie Teuerung, eine drohende Rezession sowie steigenden Unmut in den eigenen Ländern konzentrieren muss.

        "Man stellt in Europa ernüchtert fest, dass sich der 42 Prozent Rohstoffanteil, welcher bis zum Februar 2022 aus Russland gegen Westen geflossen ist, eben nicht so einfach kompensieren lässt. Man möchte den eigenen Wohlstand nicht verlieren. Auch nicht zum Wohle vom Krieg Betroffener". Dass es den betroffenen Ukrainern in diesem Winter weitaus schlimmer gehen werde, sei schon jetzt absehbar. "Die schwierige humanitäre Lage wird sich durch die kommende Kälte weiter massiv verschlechtern." Dem Kreml käme das alles nur zu Gute.

        "Moderne Kriegsführung ist vor allem ein Krieg um die Köpfe", so die Ansage des österreichischen Oberst. Er macht klar, dass die Ukraine mit der Unterstützung des Westens steht und fällt. Deshalb würden die Russen nun alles tun, um die Meinung der Bürger in den unterstützenden Staaten umzudrehen – im Fachjargon wird das "kognitive Kriegsführung" genannt: "Ein umfassend geführter Abnützungskrieg wird selten am Schlachtfeld entschieden, sondern oft in den Köpfen der Bevölkerung im Hinterland."

        "Waffen werden noch lange nicht schweigen"

        Am Ende ist es ein weitaus größeres Kräftemessen als nur auf dem Schlachtfeld der Ukraine selbst. Während Putin uns Europäern mit Rohstoffentzug und Atomwaffen droht, um uns einknicken zu lassen, zielen die westlichen Sanktionen wiederum darauf ab, den Zusammenhalt der russischen Bevölkerung bröckeln zu lassen.

        "Die russische Wirtschaft erleidet bereits schwere Treffer", schildert Reisner. Die Frage sei nun, ob diese eine Verhaltensänderung in Moskau bewirken könnten. Sein dramatisches Fazit zur Analyse: "Moment lässt sich ein entscheidender Erfolg weder am Schlachtfeld noch an der Heimatfront  messen, womit klar ist, dass die Waffen in der Ukraine noch lange nicht schweigen werden."

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