Elina Valtonen hat einen wahren Interviewmarathon hinter sich, als sie sich mit der Redaktion des Schweizer Mediums "20 Minuten" verbindet. Dennoch nimmt sich die 43-Jährige Zeit, als sie über die angespannte Lage rund um den Ukraine-Krieg spricht – schnell und in fließendem, akzentfreien Deutsch. Das geht auf ihre Kindheit zurück: Bis sie 13 Jahre alt war, lebte Finnlands heutige Außenministerin in Bonn.
Das ist Valtonens Interview mit "20 Minuten" im Wortlaut:
Elina Valtonen: Täglich, es ist mein Job. Auf die allgemeine Bevölkerung dürfte das aber kaum zutreffen, auch wenn der Gedanke wegen der geografischen Lage allen vertraut ist: Wir haben die lange Grenze zu Russland - über die wir aber eigentlich sehr glücklich sind, denn so können wir auf unserer Seite eine freie Demokratie sein. Auch deswegen investierte Finnland schon immer stark in die Abschreckung. Nicht, um Krieg führen zu müssen, sondern um ihn zu vermeiden.
„Wir sind sehr glücklich über die Grenze zu Russland – so können wir auf unserer Seite eine freie Demokratie sein.“Elina ValtonenFinnlands Außenministerin
Mein finnischer Großvater sagte gerne: "Ein Russe bleibt ein Russe, auch wenn man ihn in Butter brät". Kennt man den Spruch im heutigen Finnland noch?
Ja, durchaus. Er reicht ziemlich weit zurück und will ausdrücken, dass Russland immer eine Bedrohung darstellen kann, auch wenn es eine Zeit lang gut geht. Wir sehen es wieder in der Ukraine. Wir hatten nach dem Zusammenbruch der UdSSR alle darauf gehofft, dass Russland sich zu einer echten Demokratie entwickelt und seiner Bevölkerung Freiheiten gewährt. Auch Finnland handelte noch vor 10 bis 15 Jahren mit Russland, man unterhielt regen politischen Kontakt.
„Der Spruch will ausdrücken; Russland kann immer eine Bedrohung darstellen, auch wenn es eine Zeit lang gut geht.“Elina ValtonenFinnlands Außenministerin
Doch trotz aller Hoffnung auf eine gute Zusammenarbeit investierten wir immer auch in die Verteidigung. Wir konnten es uns nicht leisten, die Wehrpflicht aufzugeben, denn wir wussten, dass es auch anders kommen kann. Finnland hat über Jahrhunderte seine eigene Erfahrung mit Russland gemacht, nicht nur im 2. Weltkrieg. Darum geht es in dem Spruch: Nicht, dass "die Russen" irgendwie schlimm wären, sondern darum, dass man stets davon ausgehen kann, dass dieses Reich eines Tages wieder zur Bedrohung wird.
Wir investieren noch stärker in die Verteidigung und unterstützen gleichzeitig die Ukraine. Es ist wirklich wichtig, dass alle Länder, die mit den gleichen demokratischen Werten weiter in Freiheit leben wollen, sich einsetzen. Es steht viel auf dem Spiel. In Finnland begreifen das alle – auch wenn ich verstehe, wenn das anderswo weniger im alltäglichen Bewusstsein ist. Auch die Sympathie mit der ukrainischen Bevölkerung ist in Finnland handfest und stark spürbar. Gleichzeitig macht sich aber auch bemerkbar, dass unsere Ostgrenze komplett zu ist.
Die Grenze nach Russland passiert seit eineinhalb Jahren kein Mensch mehr. Der Handel ist komplett weggebrochen. Hier müssen wir eingestehen, dass wir einen ziemlich großen ökonomischen Schaden davontragen. Dennoch sind uns die Werte und der Frieden noch wichtiger. In dem Sinne ist es nicht die einfachste Zeit für Finnland und andere Ukraine-Unterstützer, denn es kostet sehr viel Geld, das Land zu unterstützen und mehr in die eigene Verteidigung zu investieren, während die Wirtschaft nicht besonders wächst.
Nein. Wie gesagt, die Finnen wissen am Ende, dass Freiheit und Frieden viel mehr wert sind als jegliche Euros. Derzeit macht Finnland ziemlich viel Schulden, obwohl es traditionell ein gering verschuldetes Land ist. Trotzdem macht die Bevölkerung hier mit. Natürlich gibt es eine politische Debatte, wie man das Geld ausgeben soll und wie nicht, aber generell herrscht im Parlament fast Einigkeit darüber, dass man in die Verteidigung nicht nur investieren, sondern stark investieren muss.
Elina Valtonen wurde zwar in Helsinki geboren, aber lebte bis 13 mit ihrer Familie in Bonn. Nach ihrer Rückkehr ging sie zur Deutschen Schule in Helsinki und studierte Informatik an der Helsinki University of Technology sowie Wirtschaftswissenschaften an der Helsinki School of Economics. "Ich habe neben dem Studium viel gearbeitet", sagt sie. "Aber ich habe auch darauf geachtet, dass das Feiern nicht zu kurz kommt."
Nach der Universität arbeitete Valtonen zehn Jahre als Analystin im Investmentbanking. Ende 2013 übernahm sie die Leitung und dann den Vorsitz des liberalen Think Tanks Libera. In dieser Zeit fiel der Auftakt zu ihrer steilen Politkarriere: 2014 zog Valtonen für die konservative Finnische Sammlungspartei ins Parlament ein und wurde 2020 stellvertretende Partei-Vorsitzende. Seit Juni 2023 ist sie Finnlands Außenministerin im Kabinett von Premierminister Petteri Orpo.
Grundsätzlich sehr positiv. Finnland hat die Wehrpflicht nie aufgegeben. Zudem haben Untersuchungen gezeigt, dass die Finnen – egal, ob jung oder alt – den stärksten Verteidigungswillen in ganz Europa haben. Ich würde das mit dem Kontrast erklären, der sich auftut, wenn man über unsere Ostgrenze gehen würde: vom freiheitlichen Finnland nach Russland, wo man als normaler Mensch quasi keine Freiheiten hat. Da weiß jeder, was auf dem Spiel steht.
Es geht eine bedeutende hybride Bedrohung von Russland aus. Sie richtet sich ganz besonders gegen Länder, deren Bevölkerung in einer wahren Demokratie leben will, in einem Rechtsstaat und einer korruptionsfreien Marktwirtschaft und die ihr Land vielleicht auch einmal in der EU oder NATO sehen will. In diesen Ländern ist es besonders wichtig, dass wir Russland zurückweisen und die Menschen dort ertüchtigen, dass sie das Recht auf ihre Freiheiten und Werte haben.
Ja, tatsächlich das typischste Narrativ von allen. Demnach musste Russland in der Ukraine anscheinend eingreifen und sie dann auch angreifen, weil die Demokratien beziehungsweise die NATO zu nah an Russland heranrückte. Das ist zwar leicht zu widerlegen, aber die Behauptung hält sich standhaft.
Ja. Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis und hat sich Russland gegenüber nie aggressiv gezeigt. Auch stellt die NATO für Russland keine Bedrohung dar. Wäre das der Fall, hätte Russland nicht all seine Truppen von unserer Grenze in die Ukraine abgezogen, als wir mit Schweden vor ein paar Jahren der NATO beitraten. Man hätte sie dort belassen. Die "Bedrohung", von der Russland so gerne spricht, gibt es nicht. Sie soll alleine den eigenen Imperialismus rechtfertigen.
„Man kann es sich leisten, neutral zu sein, wenn man Demokratien als Nachbarn hat.“Elina ValtonenFinnlands Außenministerin
Genau genommen war Finnland nie wirklich neutral, respektive, wir hatten nicht den Luxus, darüber groß zu entscheiden: Wir haben eine 1340 Kilometer lange Grenze zu Russland, da ist man nicht freiwillig neutral.
Als EU-Mitglied sind wir das ohnehin schon lange nicht mehr. Denn die Solidaritätsklausel im Lissabonner Vertrag besagt wie der Artikel 5 der NATO, dass man anderen Mitgliedern im Fall eines Angriffs zur Hilfe eilen soll. Man kann es sich aber leisten, neutral zu sein, wenn man Deutschland, Frankreich, Österreich, Italien – also Demokratien als Nachbarn hat. Das gesagt, schätze ich die Freundschaft mit der Schweiz sehr.
Ich finde Finnland und die Schweiz denken über sehr viele Dinge sehr ähnlich. Ich bin natürlich nicht in der Lage, der Schweiz irgendwelche Hinweise oder Ratschläge zu geben, das entscheiden die Schweizer und Schweizerinnen selbst. Aber ich sage: Bleiben wir gemeinsam stark für die westlichen Werte.