Am Mittwochvormittag hielt Bundespräsident Alexander Van der Bellen die traditionelle Eröffnungsrede zu den Bregenzer Festspielen, die heuer zum 79. Mal über die Seebühne gehen. Die Worte des Staatsoberhaupts gingen deutlich über Kunst und Kultur hinaus – Van der Bellen spannte einen Bogen von globalen Krisen über technologische Umbrüche bis zu Europas Zukunft – und appellierte an Vernunft, Mut und gemeinsamen Gestaltungswillen.
"Die liberale Demokratie steht unter Druck", erklärte Van der Bellen gleich zu Beginn: "Es scheint populärer zu werden, Demokratie für zu weich, zu langsam, zu kompromissorientiert zu halten." Statt des Rechtsstaats dominiere immer öfter das "Recht des Stärkeren".
Auch das Erfolgsmodell Europa sei ins Wanken geraten. "Zu bestimmend, zu unbestimmt, zu wirtschaftlich restriktiv, zu langsam, zu nachdenklich, zu verkopft, zu – europäisch", zählte der Bundespräsident auf, was viele dem Kontinent vorwerfen würden. Doch Van der Bellen hielt dagegen: "Wir Europäer haben gemeinsam in den letzten Jahrzehnten große Um- und Aufbrüche friedlich und zum Wohle aller bewältigt."
An dieser gemeinsamen Basis werde jetzt aber kräftig gerüttelt, so der Bundespräsident – "Von außen. Und von innen."
„So viele Krisen, man kommt ja gar nicht mehr nach mit dem Wegschauen.“Alexander Van der BellenBundespräsident
"Ja, wir leben in interessanten Zeiten", so das Staatsoberhaupt, mit Bezug auf die "rasende technologische Entwicklung", aber auch –"bevorstehende, schwelende oder offene Konflikte in vielen Winkeln der Welt".
"So viele Krisen, man kommt ja gar nicht mehr nach mit dem Wegschauen", fuhr Van der Bellen fort. Er könne mittlerweile nachvollziehen, warum der Spruch "Mögest du in interessanten Zeiten leben" in China als Fluch gelte.
Wie es weitergehen könne? Van der Bellen entwarf in seiner Rede drei mögliche Zukunftsszenarien.
Das erste: "Dass alles nicht so schlimm wird. Dass alle Dinge, die sich gerade abzeichnen oder gerade passieren, sich wieder beruhigen […] und ein goldenes Zeitalter beginnt." "Nicht unmöglich. Aber auch nicht sehr wahrscheinlich", erklärte der Bundespräsident.
Das zweite Szenario sei das Gegenteil: "Dass alles schiefgeht […] wir auf eine Apokalypse zusteuern, die Welt in Flammen aufgeht und wir in einem phänomenalen Crash an die Wand fahren." Das sei auch nicht unmöglich, auch nicht sehr wahrscheinlich. "Ok, vielleicht ein bisschen wahrscheinlicher als das erste Szenario", gab Van der Bellen zu.
„In welche Richtung das Pendel ausschlägt, können wir alle mitbestimmen“Alexander Van der BellenBundespräsident
Er persönlich halte das dritte Szenario für am wahrscheinlichsten, so VdB: "Die Zukunft wird weder paradiesisch noch apokalyptisch sein." Sie werde "turbulent und unvorhersehbar", "einmal gut und ein anderes Mal chaotisch verlaufen". Entscheidend sei: "In welche Richtung das Pendel ausschlägt, können wir alle mitbestimmen."
Der Bundespräsident betonte dabei eindrücklich, dass man die Dinge "ruhig und entschlossen anpacken" solle, statt sich in "Alltagsflucht oder Schreckensszenarien zu verlieren".
Für den Weg dorthin brauche es drei Prinzipien. "Erstens: Akzeptieren wir die Welt, wie sie ist und leben wir damit." Van der Bellen appellierte: "Sehen wir die Realität nicht so, wie wir sie haben wollen. Und auch nicht so, wie wir sie fürchten. Sehen wir sie, wie sie ist."
"Zweitens: Hören wir nicht auf, zu lernen", forderte das Staatsoberhaupt. "Und drittens: "Lassen Sie uns beweglich bleiben."
"Diese drei einfachen Prinzipien: Anerkennen, was ist; lebenslang dazulernen und die Bereitschaft, sich weiterzuentwickeln, werden uns helfen, die Zukunft zu navigieren", fasste Van der Bellen zusammen.
„Warum nicht ein großes europäisches Eisenbahnprojekt, mit dem Ziel, die europäischen Hauptstädte mit Hochgeschwindigkeitszügen zu verbinden?“Alexander Van der BellenBundespräsident
In der Schlusssequenz seiner Rede rief Van der Bellen zu großen, gemeinsamen europäischen Projekten auf: "Warum nicht ein großes europäisches Eisenbahnprojekt, mit dem Ziel, die europäischen Hauptstädte mit Hochgeschwindigkeitszügen zu verbinden?" Oder: "Warum nicht ein gemeinsames, europäisches Rüstungsprojekt?" Ebenso forderte er digitale Souveränität: "Warum sollten wir nicht fähig sein, eine europäische KI zu bauen?"
"Ja, wir leben in interessanten Zeiten", schloss der Bundespräsident den Kreis zum Beginn seiner Rede: "Es liegt an uns allen, dass wir dieses Wort 'interessant' positiv lesen: […] letztlich als etwas, das uns dazu bringt, etwas Neues zu lernen über uns und die guten Seiten des Menschseins." Zu diesen guten Seiten gehöre mit Sicherheit Kunst und Kultur. "Festspiele, wie hier in Bregenz, haben einen Wert für unser Land. Ich wünsche der neuen Intendantin, Lilli Paasikivi, toi toi toi für ihre erste Saison", so Alexander Van der Bellen abschließend.