"Heute": Tennis wurde nach Federer und Nadal eine Krise prophezeit. Es folgte mit Alcaraz und Sinner ein neues Zeitalter. Wie ordnen Sie diese neue Ära ein?
Jürgen Melzer: "Alcaraz und Sinner sind klar besser als alle anderen, sie sind dem Rest enteilt. Elf von zwölf Turnieren, wo sie zuletzt am Start waren, haben sie auch gewonnen. Durchschnittsleistungen reichen bei ihnen oft für klare Erfolge – das ist ein gefährliches Zeichen für die Gegner."
Überrascht von der Dominanz?
"Ehrlich gesagt, ja. Ich dachte, dass andere mithalten können. Aber ein Zverev zum Beispiel ist an dieser übermächtigen Konkurrenz zerbrochen. Jetzt ist er wieder ein gutes Stück weg vom ersten Grand-Slam-Triumph – das ist frustrierend."
Alcaraz bewegt sich wie ein Boxer, spielt Tennis mit einem Lachen im Gesicht. Sie sind als ÖTV-Sportdirektor auch für die Talente-Ausbildung im Landverantwortlich. Was kann man sich von Alcaraz abschauen?
"Die Beinarbeit ist schon auch etwas gottgegeben. Sie ist aber auch das Ergebnis einer polysportiven Ausbildung, dass er in seiner Kindheit viele Sportarten gemacht hat. Wenn Kinder Alcaraz jetzt im Fernsehen zusehen, merken sie rasch, dass er diesen Sport liebt. Sein Lachen zwischen den Ballwechseln ist nicht aufgesetzt. Bei ihm habe ich das Gefühl, ihm geht es bei all dem Drumherum rein um den Sport. Er will nur auf den Platz raus. Er hat Spaß an dem, was er tut. Das ist bei seinen Varianten an Schlägen auch verständlich. Er liebt aber auch den Wettkampf. Er wird für Sinner eine echte Benchmark."
Apropos viele Sportarten in der Kindheit: Sinner war einer der besten italienischen Skifahrer, spielte Fußball. Ein Zufall?
"Nein. Ich glaube, dass man etwas liegen lässt, wenn man zu sportartspezifisch ausbildet und in der Kindheit nur Tennis spielt. Der Trend geht dahin, dass man immer früher viel Tennis spielt. Wie Alcaraz den Platz geschickt aufteilt, wie er die Ecken abschneidet, seine Hand-Auge-Koordination – da helfen andere Sporterfahrungen. Ich selbst habe erst mit acht Jahren mit Tennis begonnen. Ich habe Fußball gespielt, war Geräteturnen, bin viel Eisgelaufen. Es ist wurscht, ob du mit zwölf oder 14 Jahren die Nummer vier oder 30 in Österreich bist. Zählen tut es mit 16, 17 Jahren."
Lilli Tagger ist 17. Sie gewann die French Open bei den Juniorinnen, will jetzt bei den Damen zuschlagen.
"Lilli hat ein Team um sich, das ganz genau weiß, was sie braucht. Ihr Weg ist vielversprechend. Sie ist groß, spielt facettenreich. Jeder Schlag bei ihr ist gut ausgebildet. Sie kann extrem dominant spielen, mit dem Slice auch gut verteidigen und aus der Defensive umschalten. Lilli hat nicht nur ein System, sie kann sehr viel spielen. Das ist Fluch und Segen. Jetzt geht es darum, den richtigen Schlag zum richtigen Zeitpunkt zu spielen."
Joel Schwärzler wurde auch als Supertalent gefeiert, dann kam er etwas vom Weg ab. Seine Schläge sind schnell, seine Defensivarbeit war auffällig ausbaufähig. Konnte er diese Lücke, die zur Weltspitze klafft, schließen?
"Schließen nicht, aber es ist zuletzt besser geworden. Tennis ist nicht nur Offensive, er braucht defensiv in den Ecken mehr Stabilität. Auch die Risikoquote aus der Defensive muss besser werden. Dafür muss man aber auch gewillt sein, zu lernen. Im Kopf gab es zuletzt eine Entwicklung bei ihm. Er ist nicht mehr so frustriert, wenn etwas nicht klappt. Seine Offensivqualitäten sind gut, den Rest muss er sich erarbeiten."
Sebastian Ofner arbeitet nach Handgelenkproblemen am Xten Comeback.
"Er ist hart im Nehmen. Es ist bitter, wenn du nie eine Saison ganz durchspielen kannst, weil es der Körper nicht übersteht. Beim Tennis ist es oft so, wenn man nicht spielt, kommen die Wehwehchen bei der Rückkehr. Bei ,Ofi' war zuletzt der Wurm drin – wahrscheinlich lag das am Handgelenk. Siebenmal zum Auftakt zu verlieren, geht an keinem Tennisspieler spurlos vorbei. Er hat aber das Level, wieder oben anzuschließen."
Im Davis Cup trifft Österreich ab Freitag in Debrecen auf Ungarn. Bei einem Sieg gehören wir zu den Top 8 der Welt. Haben Sie als Kapitän so viel Einfluss wie ÖFB-Teamchef Ralf Rangnick?
"Ich sehe die Rolle ähnlich wie die von Rangnick. Ich erarbeite mit den Spielern eine Taktik, wie wir unseren Gegnern wehtun können. Den Ball kann ich nicht für sie schlagen, da bin ich Passagier – so wie Rangnick. Aber ich will für gute Stimmung sorgen und die Spieler von der Bank aus begleiten."
Ofner fällt verletzt aus. Haben wir eine Chance?
"Wir sind nicht krasser Außenseiter, aber Außenseiter. Die Ungarn haben mit Marton Fucsovics und Fabian Marozsan zwei Spieler in den Top 60. Das haben wir nicht, bei uns spielt aktuell nur Filip Misolic in diesen Regionen. Wichtig wird Tag eins. Gestalten wir den eng, dann werden wir unsere Chance kriegen."