Die französische Öffentlichkeit ist aus allen Wolken gefallen – allen voran Premierminister François Bayrou. Vor über zwei Wochen kam einer der größten pädokriminellen Skandale der katholischen Kirche in Frankreich ans Licht, am Dienstag meldete sich Bayrous Tochter, Hélène Perlant, mit einem Geständnis zu Wort: Sie sei selber Opfer der Gewalt am Internat am Fuße der Pyrenäen gewesen. Ein Überblick des Falles.
An der Schule Notre-Dame de Bétharram am Fuß der Pyrenäen haben Lehrer und Betreuer nach Aussagen von Betroffenen über Jahrzehnte hinweg Schüler geprügelt und sexuell missbraucht und ihr Vorgehen höchst effizient vertuscht.
Bei der Staatsanwaltschaft Pau seien in den letzten Monaten über 200 Anzeigen wegen körperlicher, psychologischer und sexueller Gewalt eingegangen, die meisten von ihnen gelten als verjährt, schreibt France 3. Die Anzeigen betreffen mindestens 13 Priester oder Ordensleute und mehrere weitere Mitarbeiter der Schule.
2023 gründete ein ehemaliger Schüler eine Facebook-Gruppe für Betroffene, viele von ihnen brachen ihr Schweigen. In der Folge wurden nach und nach weitere schlimme Vorwürfe publik.
Mittlerweile sind 200 Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft Pau eingegangen, wobei die meisten aber als verjährt gelten. Sie betreffen mindestens 13 Priester oder Ordensleute und mehrere weitere Mitarbeiter der Schule, zu der auch ein Internat gehört.
Bayrou war von 1993 bis 1997 französischer Bildungsminister. Er war außerdem damals Vorsitzender des Regionalrats. Bayrou hat zudem eine persönliche Bindung an die betroffene Schule, da drei seiner sechs Kinder – darunter Tochter Hélène – diese besuchten und seine Frau dort zeitweise Religionsunterricht gab.
Der Premier weist jedoch Vorwürfe zurück, von den mutmaßlichen Gewalttaten an der Schule gewusst zu haben.
Bayrous Tochter war Mitte der 1980er-Jahre 14 Jahre alt und besuchte ein Sommercamp in den Pyrenäen. Schon damals war ihr Vater als Parlamentsabgeordneter und Generalrat der Region Pyrénées-Atlantiques bekannt. Dies habe Hélène "eine gewisse Feindseligkeit" seitens der Mitarbeiter eingebracht, erzählt sie in einem Interview mit Paris Match.
Die heute 53-Jährige schildert ihre Begegnung mit dem im Jahr 2000 verstorbenen Pater Lartiguet. "Er sagte zu mir: 'Du, das Bayrou-Mädchen, unverschämt wie dein Vater!'" Weiter erzählt Hélène: "Eines Abends, als wir gerade unsere Schlafsäcke auspackten, packte mich Lartiguet plötzlich an den Haaren, schleifte mich mehrere Meter über den Boden und schlug und trat mich am ganzen Körper, vor allem in den Bauch."
"Die Opfer von Schlägen und sexuellen Übergriffen haben nicht gesprochen. Bétharram war wie eine Sekte oder ein totalitäres Regime organisiert, das psychologischen Druck auf Schüler und Lehrer ausübte, damit sie den Mund hielten", so Hélène. Es sei dafür gesorgt worden, dass die Betroffenen sich schämten. "Es war ein Terrorregime."
Mit ihrem Vater sprach Hélène nie darüber: "Natürlich könnte man meinen, er hätte alle Informationen. Aber er war, wie die anderen Eltern, politisch sehr engagiert, vor Ort. Er war sogar noch engagierter. Aber je engagierter man ist, desto weniger sieht man, desto weniger versteht man. Und je mehr Zeugen es gibt, desto weniger wird geredet", sagt die Tochter.
François Bayrou "weiß nicht, dass ich ein Opfer bin, und er weiß nicht, dass ich als Opfer aussagen werde", sagt die Tochter weiter im Interview. "Ich habe mich verschlossen. Verdrängt. Diese extreme Gewalt ist zu einem Nicht-Ereignis geworden. Sie verhindert, dass diese Szene Realität wird. Aber ich habe viel hinter mir gelassen", räumt sie ein.
Der Premier äußerte sich am Mittwoch zu den Gewaltvorwürfen seiner Tochter: "Als Vater trifft es mich mitten ins Herz. Dass wir nichts davon wussten und dass solche Missbräuche stattfanden, ist für mich fast unerträglich", sagte er während einer Pressekonferenz.
Seine Tochter Hélène habe nie mit ihm über die Gewalt gesprochen, betont der Premier. Aber "es ist keine persönliche Angelegenheit" und "als Beamter, der über die Rolle eines Familienvaters hinausgeht, denke ich an die Opfer" und "ich möchte sie nicht im Stich lassen", so Bayrou.
"Warum reden wir nicht über Fälle häuslicher Gewalt? Warum reden wir nicht über dramatische Inzestfälle? Warum sehen die Nachbarn nichts? Und warum sagen die Opfer selbst nichts? Ich glaube, die Opfer wollen ihre Eltern schützen", meinte Premier Bayrou. Am 14. Mai muss er von der parlamentarischen Untersuchungskommission zum Bétharram-Skandal angehört werden.