Ukraine

Kreml-Kenner: Wladimir Putin bleibt nicht viel Zeit

Die Entscheidung in der Ukraine stehe kurz bevor, sagt ein Kreml-Kenner und Kritiker. Bis dahin wird Putins Würgegriff um die EU immer schlimmer.

Roman Palman
Wladimir Putin während des Gipfeltreffens mit dem türkischen Präsidenten Erdogan in Teheran am 19. Juli 2022.
Wladimir Putin während des Gipfeltreffens mit dem türkischen Präsidenten Erdogan in Teheran am 19. Juli 2022.
Sputnik/Sergei Savostyanov via REUTERS

Nach bald 150 Tagen Krieg in der Ukraine kristallisieren sich düstere Aussichten heraus: Einen totalen Sieg wird es vielleicht niemals geben, weder für Russland noch die Ukraine. Auch signifikante Landgewinne konnten die russischen Invasoren seit dem Fall von Sjewerodonezk und Lyssytschansk Anfang Juli nicht mehr verzeichnen.

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Wladimir Putin muss seiner Armee offenbar eine Ruhepause geben, um die heftigen Verluste in den eigenen Reihen wieder aufzufüllen, ehe er eine weitere Großoffensive anordnen kann. Währenddessen laufen in Kiew die Vorbereitungen für einen massiven Gegenschlag mit der möglichen Rückeroberung besetzter Gebiete – Berichten zufolge im Süden rund um Cherson an der Dnepr-Mündung – vor.

    Lyssytschansk vor dem Fall: Diese Bilder wurden im Juni 2022 aufgenommen.
    Lyssytschansk vor dem Fall: Diese Bilder wurden im Juni 2022 aufgenommen.
    State Emergency Services of Ukraine Press Service/Handout via REUTERS

    Viel Zeit für die Entscheidungsschlacht bleibt allerdings weder Wolodimir Selenski noch Wladimir Putin – das zumindest ist die Einschätzung von Leonid Wolkow, russischer Kreml-Kenner und Stabschef des inhaftierten Oppositionspolitikers Alexei Nawalny.

    Russen büßen wichtigen Vorteil ein

    Der russischen Armee bliebe nach vielen Fehlschlägen nur noch, sich auf die zahlenmäßige Überlegenheit der eigenen Artillerie zu verlassen. Eine Stellung der ukrainischen Armee werde großflächig niedergebombt und dann Wagner-Söldner und pro-russische Separatisten-Kämpfer vorgeschickt – Kanonenfutter aus der Sicht des russischen Verteidigungsministeriums. Die Gefallenen aus diesen Kampfgruppen würden nicht zu den eigenen Kriegsverlusten zählen. Sollte es ukrainisches Gegenfeuer geben, erfolge der Rückzug und alles beginne von vorne.

    Leonid Wolkow ist der Stabschef des inhaftieren Oppositionspolitikers Alexei Nawalny.
    Leonid Wolkow ist der Stabschef des inhaftieren Oppositionspolitikers Alexei Nawalny.
    REUTERS

    "Dieser Ansatz erlaubt ein langsames Vorrücken und verhindert hohe Verluste der regulären Armee, die bereits 30 bis 50 Prozent ihrer Männer in den ersten Monaten verloren hat. Aber jetzt verschiebt HIMARS das Gleichgewicht der Kräfte auf dramatische Weise und gleicht die russische Artillerie-Überlegenheit völlig aus", schreibt Wolkow in seiner ausführlichen Erklärung auf Twitter. Ähnliche Einschätzungen gibt es auch von ranghohen Militärs in Europa – "Heute" berichtete.

      Diese Bilder zeigen das Abfeuern des US-Systems HIMARS durch ukrainisches Militär spätestens ab dem 24. Juni 2022.
      Diese Bilder zeigen das Abfeuern des US-Systems HIMARS durch ukrainisches Militär spätestens ab dem 24. Juni 2022.
      Pavlo Narozhnyy/via REUTERS

      Waffenruhe wäre fatal

      Putin wolle nun deshalb eine schnelle Waffenruhe herbeiführen. Nicht nur, um weitere Reserven an die Front zu schaffen, sondern auch, um vorrangig den Status Quo zu zementieren.

      Soviel ist mittlerweile klar: Moskau geht es nicht nur um die Oblast Donezk und Luhansk, aus allen besetzten Gebieten soll nie wieder abgezogen werden. Denn nach dem Schema Krim laufen bereits Vorbereitungen für "Scheinreferenden". In der Besatzungszone werden zudem ukrainische durch russische Schilder ersetzt, den Einwohnern russische Pässe aufgedrängt – wohl um nachher behaupten zu können, die Bürger wären sowieso alle "befreite" Russen.

      Wolkow erklärt weiter, wieso Selenski und die Ukraine eine Waffenruhe bzw. einen Stillstand niemals akzeptieren könnten. Eine solche Übereinkunft mit dem Kreml würde eine "Demarkationslinie ziehen, die die politische Realität für viele Jahre bestimmen wird – nichts ist beständiger als ein Provisorium."

      "Schlechter Frieden"

      Und sollte es jemals dazu kommen, würde in Europa die "Ein schlechter Frieden ist besser als ein guter Krieg"-Fraktion die Oberhand gewinnen. EU-Politiker würden sich diesen Waffenstillstand auf die eigenen Fahnen heften, um die Wählergunst zu gewinnen – und die Unterstützung für die Ukraine, die auf die westlichen Waffen angewiesen ist, plötzlich wegbrechen.

      Nur: "Putin wird nicht verschwinden und wird wieder Kräfte und Wut für einen weiteren blutigen Angriff in wenigen Jahren sammeln", sagt der Kreml-Kritiker. "Weite Teile der Ukraine werden besetzt bleiben, Millionen Menschen ihre Heimat verlieren und das Böse bleibt unbestraft." Einen solchen "schlechten Frieden", dürfe Selenski nicht zulassen, sonst droht die Stimmung im Westen bei einem späteren Rückeroberungsversuch der Ukrainer zu kippen.

      Sowohl Kiew und Moskau wissen um die prekäre Lage, in der sie sich befinden. "Putin setzt alles auf eine Karte und wird mit einer Spezialoperation versuchen, einen Waffenstillstand zu erzwingen, der die Annexion formalisieren und eine mehrjährige Pause bis zur nächsten Phase des Kriegs bringen würde."

      Putin erpresst die Welt

      Auch wenn er erst "Fakten auf dem Gefechtsfeld schaffen" will, das Schlachtfeld des russischen Präsidenten ist längst nicht mehr nur auf die Ukraine beschränkt. Er versuche, die westlichen Staatsführer einzuschüchtern und zu erpressen. Mit seiner Getreideblockade verschärfe er bewusst die Hungerkrise in Nordafrika. Allerdings blieb die westliche Front trotz des Schreckensszenarios von Millionen weiteren Flüchtlingen geschlossen.

      "Aber wie wir wissen, hat Putin zwei Verbündete. Und weil General Hunger versagte, wird nun Feldmarschall Kälte an die Front geschickt", so der Nawalny-Vertraute weiter. "Der Winter kommt."

      In den kommenden Monaten werde der Russen-Diktator seinen Erdgas-Joker gezielt einsetzen, um die Bevölkerung Europas in Angst zu versetzen. Dazu werde er alle seine Verbündeten und bezahlten Marionetten – "korrupte Politiker, Kleinparteien, Kreml-treue Journalisten und 'Experten'" – mobilisieren. Diese sollten laut Wolkow dann eine Nachricht verbreiten: "Natürlich bedauern wir, was in der Ukraine passiert, aber wir müssen uns daran halten, was Putin will, damit Europa nicht erfriert."

      "Lasst euch nicht verarschen", so die klare Warnung des russischen Oppositionellen. "Europa hat vielleicht einen schwierigen Winter vor sich, doch das ist der notwendige Preis für acht Jahre an Indifferenz und Nichts-tun [2014 annektierte Russland die Krim, Anm.]. Wenn wir jetzt einknicken und Putins Forderungen nachgeben, dann wird Europa in sechs bis acht Jahren mit ziemlicher Sicherheit einen anderen Winter erleben – einen nuklearen."

      Wenige Monate bleiben Putin noch

      Um das alles zu verhindern und die Region Cherson zurückzuerobern, bleibt auch Kiew nicht mehr viel Zeit. Je näher der Winter kommt, desto größer wird Putins Gas-Druck auf die EU-Verbündeten. Die Ukraine brauche auch bald einen signifikanten militärischen Erfolg, damit "die Öffentlichkeit an die Möglichkeit eines Sieges glauben kann und bereit ist dafür die Zähne zusammenzubeißen und durchzuhalten."

      Putin würde aber nicht aus purer Bösartigkeit auf Hunger- und Gas-Erpressung zurückgreifen, sondern sei nach den militärischen Misserfolgen seiner Armee in der Anfangsphase der Invasion nun dazu gezwungen. "Er verliert massiv an Unterstützung innerhalb Russlands. Und auch er weiß, dass er nur noch zwei bis drei Monate Zeit hat, um eine Waffenruhe zu für ihn vorteilhaften Bedingungen herbeizuführen."

      Wolkow ist sich sicher, danach gibt es für den russischen Präsidenten nichts mehr zu gewinnen: "Das werden wahrscheinlich die schlimmsten Monate, aber danach hat Putin verloren. Er hat zwar jetzt schon verloren, aber es ist notwendig, ihn zu besiegen und nicht davonkriechen zu lassen – um seinem finalen Schlag standzuhalten."

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