Anne Wünsche macht einen mutigen Schritt in die Öffentlichkeit – nicht, um zu polarisieren, sondern um anderen Betroffenen Hoffnung und Orientierung zu geben. Erstmals spricht die 33-Jährige über den Kontaktabbruch zu ihren Eltern.
Die Entscheidung ist mir nicht leicht gefallen, schließlich hat man nur eine Mama und einen Papa. Es war ein langer, schmerzhafter Prozess. Ich habe viele Jahre geschwiegen, weil ich die Menschen schützen wollte, die damals – auch wenn es hart klingt – maßgeblich zu meinen Suizidgedanken beigetragen haben. 2009 war ich an einem Punkt, an dem ich nicht mehr leben wollte. Heute erzähle ich das nicht, um Mitleid zu bekommen, sondern um anderen Mut zu machen, die vielleicht ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Meine Kindheit war von Gewalt geprägt – körperlich und emotional.
Als Kind versteht man die Welt nicht, wenn ausgerechnet die Menschen, die einen bedingungslos lieben und beschützen sollten, stattdessen Angst und Unsicherheit vermitteln. Ich hatte ständig das Gefühl, nicht gut genug zu sein – als müsste ich mir Liebe erst verdienen. Es gibt viele Situationen, an die ich oft zurückdenke und gern mein damaliges kleines Ich in den Arm nehmen möchte. Manche Erinnerungen fehlen mir hingegen komplett, so als hätte mein Gehirn sie aus Selbstschutz gelöscht. Etwa die Zeit nach der Trennung meiner Eltern. Meine Mutter war plötzlich weg, und ich blieb mit meinem kleinen Bruder beim Vater. Es war eine harte Zeit, geprägt von Streit, lautem Geschrei und Frust, der oft an uns Kindern ausgelassen wurde.
Über die Jahre ist so viel vorgefallen, dass ich irgendwann einfach die Reißleine ziehen musste. Es war kein plötzlicher Bruch, sondern ein langsamer, schmerzhafter Prozess, der sich über viele Monate gezogen hat. Ich kann und möchte nicht jedes Detail öffentlich machen, weil es auch andere betrifft. Aber es gab Aussagen, die ich nicht mehr tolerieren konnte – unter anderem ausländerfeindliche Bemerkungen. Mein Partner ist halb Spanier, meine älteste Tochter hat ebenfalls eine gemischte Herkunft. Wenn so etwas selbst im engsten Kreis fällt, dann hört bei mir das Verständnis auf – ganz egal, ob es Familie oder Freunde sind. Was mich besonders verletzt hat: Ich habe erfahren, dass damals mehrfach ernsthaft darüber nachgedacht wurde, mich ins Heim zu geben. Das hat in mir etwas zerbrechen lassen. Ich habe lange versucht, das alles zu verstehen und zu verzeihen – aber irgendwann musste ich mich selbst schützen. Ich habe diese Entscheidung nicht leichtfertig getroffen, aber sie war notwendig, um endlich heilen zu können.
Ich hinterfrage mich als Mutter sehr oft. Bin ich gut genug? Sind meine Kinder glücklich? Spüren sie, wie sehr ich sie liebe? Bekommen sie genug Aufmerksamkeit, genug Lob, genug Halt? Diese Gedanken begleiten mich ständig, gerade weil ich selbst so viel Negatives erlebt habe. Ich wünsche mir von Herzen, dass meine Kinder ganz anders aufwachsen als ich. In einem Zuhause, in dem sie sich sicher fühlen. Mit Eltern, die sie stärken, statt sie zu brechen. Ich möchte, dass sie sich bedingungslos geliebt fühlen – nicht nur durch Worte, sondern auch durch Taten. Mein Ziel ist es, sie zu starken, selbstbewussten und empathischen Menschen zu erziehen. Und ich glaube, gerade weil ich so vieles anders machen möchte, bin ich besonders achtsam – auch wenn ich sicher nicht perfekt bin. Aber ich gebe jeden Tag mein Bestes.
Ich bin alles andere als unglücklich. Ich fühle mich frei. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, mein Leben wirklich selbst in der Hand zu haben. Natürlich war der Weg dorthin nicht einfach, und es gab viele Momente der Traurigkeit und des Zweifelns. Aber heute richtet sich mein Blick nach vorn, nicht mehr zurück. Ich habe Frieden mit meiner Entscheidung geschlossen. Es geht mir nicht darum, Schuld zu verteilen – sondern darum, Verantwortung für mein eigenes Wohlbefinden zu übernehmen. Diese Freiheit fühlt sich manchmal nicht leicht an, aber sie fühlt sich richtig an.
Triff deine Entscheidungen aus dem Herzen – für dich, nicht für andere. Nur du kannst fühlen, was dir guttut. Für mich war der Kontaktabbruch der richtige Weg, aber das bedeutet nicht, dass es für jeden der richtige ist. Es gibt kein Pauschalrezept, nur deinen ganz eigenen Weg. Was mir wichtig ist: Du bist nicht allein. Auch wenn es sich manchmal so anfühlt – es gibt viele Menschen, die ähnliche Erfahrungen machen oder gemacht haben. Sprich darüber. Suche dir Unterstützung. Und wenn du kannst, rede auch mit deinen Eltern. Aber glaub bitte eines nie: dass du schuld bist. Als Kinder tragen wir keine Verantwortung für das Verhalten unserer Eltern. Wir sind nicht dafür gemacht, ihre Last zu tragen oder ihre Fehler auszubügeln. Eltern sollten uns lieben, schützen und stärken – nicht verletzen. Und wenn sie das nicht können, dann darfst du dich abgrenzen, ohne dich dafür zu schämen.