In der Türkei bebt immer wieder die Erde. Auch rund um Istanbul. Schon lange warnen Fachleute vor einem schweren Erdbeben in Istanbul. Denn unweit der Millionenstadt am Bosporus stoßen die eurasische und anatolische Erdplatte aneinander. Und nicht nur das: Bei der sogenannten Hauptmarmara-Verwerfung (MMF), "unmittelbar vor den Toren Istanbuls", sind sie auch verhakt, wie ein deutsch-türkisches Forschungsteam schreibt. Entsprechend nehmen die Spannungen dort zu. Es ist nicht der einzige Hinweis auf ein bevorstehendes großes Beben.
Die MMF berge derzeit "das höchste seismische Risiko in ganz Europa", so das Team in seiner aktuellen Studie. Das zeigte sich zuletzt im April 2025, als westlich des blockierten Abschnitts ein Erdbeben der Magnitude 6,2 auftrat – das stärkste in dieser Region seit rund 60 Jahren. Das Team unter der Leitung von Patricia Martínez-Garzón vom GFZ Helmholtz-Zentrum für Geoforschung in Potsdam hatte das April-Beben zum Anlass genommen, Erdbeben und Bruchmuster der letzten 20 Jahre auszuwerten.
Das Ergebnis ist beunruhigend: In den letzten 15 Jahren lassen sich Erdbeben der Magnitude 5 und höher beobachten, die sich schrittweise von Westen nach Osten verlagern – in Richtung Istanbul. Gleichzeitig nahm die Stärke dieser Beben tendenziell zu. "Die Serie gipfelte bislang in dem Magnitude-6,2-Beben vom 23. April 2025", teilt das GFZ mit. Entlastet habe das April-Beben die Region kaum. Im Gegenteil: Modellrechnungen legen nahe, so die Forschenden, dass die Spannungen teilweise sogar zugenommen haben. Die Marmara-Verwerfung müsse daher als "kritisch geladen" betrachtet werden, so Marco Bohnhoff, der an der Studie mitgearbeitet hat.
"Das nächste stärkere Erdbeben entlang der Marmara-Verwerfung wird vermutlich auf dem verbliebenen Bereich westlich von Istanbul oder direkt auf dem vollständig verhakten Prinzeninseln-Segment südlich der Megacity auftreten", so Bohnhoff weiter. "Dies könnte ein Ereignis der Stärke 6 sein oder aber ein Vorläufer, der dann ein noch größeres Erdbeben auslöst." Laut Martínez-Garzón zeigen die Ergebnisse "eine langfristige Entwicklung teilweiser Aktivierung der Marmara-Verwerfung" auf. "Das sagt uns zwar nicht, wann ein großes Erdbeben stattfinden wird, aber es zeigt, welche Teile der Verwerfung zunehmend kritisch unter Spannung stehen."
Angesichts der hohen Risiken plädiert das Team für eine Anpassung der seismischen Risikobewertung für Istanbul und für einen Ausbau der Überwachung. Gefordert werden zusätzliche Messstationen auf dem Meeresboden, moderne Glasfaser-Sensorsysteme sowie weitere Bohrloch-Seismometer. Eine erste Tiefenmessstation dieser Art wurde bereits 2024 auf der Kapidag-Halbinsel am Südufer des Marmarameers installiert.
Die Studie ist im Fachjournal "Science" erschienen.