Als Kind bei Pflegeeltern

Frau erzählt – "Wurde mit Hundeleine ausgepeitscht"

Mit knapp zwei Jahren kam Marie Anhofer zu Pflegeeltern - die sie psychisch und physisch quälten. In ihren Büchern arbeitet sie das Erlebte auf.
Christine Ziechert
14.08.2025, 07:30
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Wenn Marie Anhofer (53) von ihrer Kindheit und Jugend erzählt, bleibt der Zuhörer fassungslos zurück. Mit knapp zwei Jahren wurde die Steirerin aufgrund von Verwahrlosung ihren leiblichen Eltern abgenommen. Alle acht Kinder wurden getrennt untergebracht, Anhofer kam zu Pflegeeltern im Bezirk Graz-Umgebung, die bereits zwei leibliche Töchter hatten. Dort erlebte sie aber erneut Gewalt.

"Das Schlimmste war für mich die Andersbehandlung, das Spürbarmachen, dass für mich andere Regeln galten - dieses Nichtgemochtwerden", erzählt die 53-Jährige im "Heute"-Interview. So musste Anhofer im Keller schlafen: "Gewalt und Erniedrigungen waren keine Seltenheit. Ich wurde mit dem Kochlöffel geschlagen und mit der Lederleine unseres Hundes ausgepeitscht. Blieben von den Schlägen offene Wunden zurück, kam meine Pflegemutter in den Keller und drückte mir wortlos eine Heilsalbe in die Hand oder sie warf sie mir einfach vor meine Füße. Am liebsten hätte ihr ihr die Salbe zurückgeschleudert."

Bestrafung wegen Bettnässen

Die Gewalt, schildert Anhofer, sei hauptsächlich von der Pflegemutter ausgegangen: "Sie war mit ihrem Leben unglücklich und hat den Frust bei mir abgeladen. Mein Pflegevater war nur der Mitläufer." Die Misshandlungen blieben nicht ohne Folgen: "Ich habe ja schon die Probleme aus meiner Ursprungsfamilie mitgebracht. Bei meinen Pflegeeltern haben dann meine Ängste und Panikzustände erst so richtig Fahrt aufgenommen - auch, weil meine leiblichen Eltern heruntergemacht wurden. 'Deine Eltern san Pücha und du bist ah so', hab ich oft gehört."

Bis zum Alter von 12 Jahren nässte die heute 53-Jährige ständig ein, wurde dafür auch bestraft: "Und tagsüber hatte ich permanent eine nasse Unterhose. Aus diesem Grund habe ich ab dem späten Nachmittag häufig nichts mehr zu trinken bekommen. Mir wurde auch gedroht, dass ich ins Heim für schwer erziehbare Kinder komme. Später hat sich dann herausgestellt, dass ich eine Nierenerkrankung habe."

„Wenn ich meine Pflegemutter angreifen wollte, musste ich sie vorher fragen“
Marie Anhoferüber ihre Kindheit

Nestwärme oder gar bedingungslose Liebe bekam sie als Mädchen nie zu spüren, stattdessen Bestrafungen wie etwa tagelanges Schweigen: "Erst, wenn meine Pflegemutter es erlaubt hat, durfte ich sie umarmen. Sie ist dann immer steif wie eine Säule dagestanden. Dabei habe ich mir in all den Jahren nichts Sehnlicheres gewünscht, als dass sie meine Umarmung einmal erwidert."

Vertrauenspersonen - etwa in der Schule - hatte Anhofer nicht: "Ich habe so gut wie niemandem vertraut. Und bei jenen, bei denen ich meine Not versucht hatte zu schildern, bin ich abgeblitzt. Mit 16 Jahren habe ich mich dann einer Sozialarbeiterin anvertraut und sie gebeten, mich von dort wegzuholen. Aber sie hat mich einfach wieder weggeschickt."

Kredit für Pflegemutter aufgenommen

Erst mit 19 Jahren - die Pflegeeltern hatten sie zu einer Koch- und Kellner-Lehrer gezwungen - konnte die Steirerin die Pflegefamilie verlassen. "Ich habe dann in einem Restaurant gekellnert und eine kleine Wohnung gemietet. Ich habe einfach so in den Tag hineingelebt, habe keine Lebensperspektive, keine Zukunft für mich gesehen."

Da sie völlig allein war, hatte Anhofer erst noch Kontakt zu ihrer Pflegefamilie - doch das änderte sich: "Meine Pflegemutter bekam eine Rückzahlungsaufforderung vom Jugendamt. In der Hoffnung, dass sie endlich erkennt, dass auch ich ein liebenswertes Mädchen bin und von Nutzen sein kann, habe ich für sie einen Kredit aufgenommen. Aber als sie die zugesagten Kreditraten nicht bezahlt hat, hat sie mir durchs Telefon geschleudert: 'Du hast uns die ganzen Jahre über ohnehin mehr als genug gekostet'."

„Die körperlichen Wunden habe ich gut weggesteckt, aber alles Seelische ...“
Marie Anhoferüber ihre Kindheit und Jugend

Anhofer wechselte beruflich später in den Sozialbereich. Heute lebt sie mit ihrer Familie in einem kleinen Ort in der Steiermark. Die Traumata, die sie in ihrer Kindheit und Jugend erlebt hat, wirken noch nach: "Während der Zeit bei meinen Pflegeeltern hat sich mit den Jahren ein immenser Hass aufgebaut. Irgendwann wusste ich einfach nicht mehr, wohin damit, hatte kein Ventil. Und das war jener Zeitpunkt, als sich Gewaltfantasien auftaten. Sie entstanden in meinem Kopf ganz von selbst. Heute ist dieser Hass großteils in Gleichgültigkeit übergegangen."

Neben Psychotherapie half Anhofer auch das Schreiben: "Ich habe schon immer ein bisschen geschrieben - meistens nur einzelne Sätze. Später ist das dann aus der Therapie heraus entstanden. Aber diese Erlebnisse trägt man natürlich ein ganzes Leben lang mit. Die körperlichen Wunden habe ich gut weggesteckt, aber alles Seelische ... Man muss ständig daran arbeiten, dass man nicht in alte Muster zurückfällt."

Neue Buch-Reihe für Pflegekinder

Mittlerweile hat Anhofer drei Bücher geschrieben: In "Rabenvieh" - so wurde sie von ihren Pflegeeltern genannt - berichtet sie von den qualvollen Erlebnissen in ihrer Kindheit und Jugend. Mit "Rabenvieh - unvergessen", das Ende Mai erschienen ist, setzt sie die Geschichte fort und erzählt von den Spätfolgen (PTBS, Albträume, Angst- sowie Panikzustände) und der Suche nach ihren leiblichen Eltern.

Bei ihrem neuesten literarischen Herzensprojekt geht es allerdings - wenig überraschend - um Pflegekinder: "Ich habe nach Büchern gesucht, die speziell für Pflegekinder geschrieben wurden. Da gibt es aber nur eine Handvoll. Daher habe ich beschlossen, selbst welche zu schreiben. Es ist eine ganze Reihe rund um die Titelfigur Enna, bestehend aus etwa acht oder neun Bänden - sechs habe ich schon geschrieben. Jedes Buch behandelt ein typisches Problem von Pflegekindern und gibt auch Lösungsansätze." Die ersten beiden Bände sollen im September erscheinen - und Pflegekindern Hoffnung und Verständnis schenken. Gefühle, die Marie Anhofer in ihrer Kindheit nicht erleben durfte.

{title && {title} } cz, {title && {title} } 14.08.2025, 07:30
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