Übelkeit, Rückenschmerzen und ein beklemmendes Gefühl in der Brust – bei Frauen mit diesen Symptomen lautet die Diagnose oftmals zuerst: Magenprobleme, Stress, vielleicht ein eingeklemmter Nerv. Tatsächlich kann es sich aber um einen Herzinfarkt handeln – oft werden diese zu spät erkannt. Solche Fälle passieren – und sie sind symptomatisch für ein großes Problem: den Gender Health Gap.
"Die Gendermedizin kann im äußersten Fall Leben retten", sagt Univ. Prof. Dr. med. Alexandra Kautzky-Willer. Die 62-jährige Fachärztin für Innere Medizin, Endokrinologie und Geriatrie ist seit 2010 Österreichs erste Professorin für Gendermedizin und leitet am Wiener AKH die klinische Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel. Sie erforscht seit Jahren, wie unterschiedlich Krankheiten bei Männern und Frauen verlaufen – und wie diese Unterschiede in der Medizin oft ignoriert werden.
Besonders deutlich wird das beim Herzinfarkt – einem Klassiker, wie sie sagt. "Bei Frauen werden die Symptome nicht nur seltener erkannt, sondern auch anders gedeutet." Während Männer mit stechendem Brustschmerz in die Klinik kommen, zeigen Frauen oft diffuse Anzeichen wie Übelkeit oder Rückenschmerzen. Die Folge: Fehldiagnosen. "Schmerz wird bei Frauen häufiger psychologisiert", so Kautzky-Willer. Beschwerden würden vorschnell auf Depression oder Stress geschoben – mit teils schweren Konsequenzen.
Das Problem hat viele Gesichter. Frauen mit Diabetes, so Kautzky-Willer, haben ein deutlich höheres Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall – und werden dennoch später diagnostiziert. Auch bei Erkrankungen wie ADHS oder Endometriose zeigt sich: Frauen werden übersehen, falsch verstanden, zu spät behandelt.
Die Ursachen sind tief in der Struktur des Gesundheitssystems verwurzelt. Erstens: Datenmangel. "Der Mann ist noch immer der medizinische Prototyp", erklärt die Medizinerin. In Studien zur Herzinfarktbehandlung werden heute noch rund 30Prozent weniger Frauen eingeschlossen. Zweitens: ein eklatanter Versorgungsmangel bei frauenspezifischen Themen wie Menstruationsbeschwerden, Menopause oder Verhütung. Drittens: mangelnde Empathie. Studien zeigen, dass Frauen sich von Ärzten weniger ernst genommen fühlen – ihre Schmerzen werden bagatellisiert.
Doch auch Medikamente wirken nicht immer gleich. Das herzstärkende Mittel Digoxin kann bei Männern die Überlebenschancen erhöhen – bei Frauen jedoch senken. Frauen brauchen teils andere Dosierungen und leiden häufiger unter Nebenwirkungen. "Und selbst wenn Frauen dieselbe Schmerzintensität wie Männer schildern, erhalten sie in Notaufnahmen seltener Schmerzmittel – und das unabhängig vom Geschlecht des medizinischen Personals", sagt Kautzky-Willer.
Die Folge ist eine medizinische Schieflage, die vielen nicht bewusst ist – aber tagtäglich Leben beeinflusst. Dabei wäre es möglich, es besser zu machen. An der MedUni Wien ist Gendermedizin inzwischen Teil der Ausbildung. Doch die Medizinerin weiß: "Es braucht mehr als einzelne Professuren. Wir brauchen Forschung, verpflichtende Studienstandards und eine klare politische Strategie."
Gendermedizin sei jung und entwickle sich rasant – Ärzte müssten bereit sein, sich laufend weiterzubilden. Denn: "Geschlecht ist nie allein ausschlaggebend. Es ist ein Puzzlestück – aber ein entscheidendes", sagt Kautzky-Willer.