Politik

"Hören wir auf damit" – VdBs dramatischer Appell im ORF

Alexander Van der Bellen hat bei seiner Rede an die Nation zu der Verhängung des neuen Lockdowns einen dramatischen Appell an alle Bürger gerichtet.

Roman Palman
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Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen bei seiner Rede an die Nation.
Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen bei seiner Rede an die Nation.
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2G reichten nicht, jetzt muss ganz Österreich eine Notbremsung einlegen. Ab Montag gibt es einen bundesweiten Lockdown, bis 12. Dezember – in Oberösterreich sogar länger – kommt das öffentliche Leben zum Erliegen, danach bleiben die Maßnahmen für Ungeimpfte weiter aufrecht. Und: eine allgemeine Impfpflicht wird kommen, ab 1. Februar 2022 sollen auch alle bisher ungeimpften Österreicher zum Corona-Stich antreten müssen.

Nachdem sich die Ereignisse nun überschlagen hatten, meldet sich am Freitagabend Bundespräsident Alexander Van der Bellen mit einer Rede an die Nation zu Wort. "Es konnte so ganz einfach nicht weitergehen", stellt sich das Staatsoberhaupt klar. Die Entscheidung für einen neuerlichen Wellenbrecher-Lockdown sei zum jetzigen Zeitpunkt die Richtige gewesen – "auch wenn sie sehr spät kam". Sanfte Rüffel für das extreme Polit-Chaos im Vorfeld.

"Das dürfen wir nicht zulassen"

"Fände ich es besser, wenn es keine Kontaktbeschränkungen bräuchte? Wenn es keine allgemeine Impfpflicht bräuchte? Natürlich. Aber darum geht es jetzt nicht. Es geht darum, das Richtige zu tun. Es geht darum, Menschenleben zu schützen und zu retten", mahnt Van der Bellen. 

Der Bundespräsident betont, dass es jetzt die Gemeinschaft, ein Miteinander brauche. Die Gefahr, dass die Gräben in der Gesellschaft immer tiefer würden, sei groß: "Aber das dürfen wir nicht zulassen. Wir gehören zusammen. Wir brauchen einander. Wir bedingen einander. Wir alle sind doch Österreich." 

"Gegenseitige Schuldzuweisungen lösen jetzt nichts. Nichts wird jetzt besser, wenn wir mit dem Finger auf die jeweils anderen zeigen und unsere Wut gegen sie richten. Bitte hören wir auf damit. Blicken wir auf die Lösung."

"Bitte helfen Sie mit!

In diesen schweren Zeiten müsse jeder einzelne das Gemeinsame über das Trennende stellen. Es sei die Verantwortung jedes Bürgers, sich jetzt nicht von Wut, Schmerz und Ärger beherrschen zu lassen, so Van der Bellen weiter: "Die kommenden Wochen werden uns noch einiges abverlangen."

Seine Ansprache endet mit einem Appell: "Wir alle, jede und jeder einzelne müssen alles dafür tun, dass die vierte Welle gebrochen wird und die nächste verhindert werden kann. Lassen wir uns nicht auseinanderdividieren. Bilden wir eine starke, solidarische Gemeinschaft. Bitte helfen Sie mit. Ich danke Ihnen."

Die Rede Van der Bellens im Wortlaut

"Liebe Österreicherinnen und Österreicher und alle, die hier leben.

In den letzten Tagen haben sich die Meldungen überschlagen. Und doch war absehbar, dass es so kommen würde. Zu drastisch ist die Entwicklung in den Spitälern, zu gefährlich die Situation, in die wir als Gemeinschaft gekommen sind. Es konnte so ganz einfach nicht weitergehen. Das haben mir alle Expertinnen und Experten bestätigt, mit denen ich in den letzten Tagen gesprochen habe. Daher war die Entscheidung der Bundesregierung gemeinsam mit den Landeshauptleuten jetzt richtig – auch wenn sie sehr spät kam.

Fände ich es besser, wenn es keine Kontaktbeschränkungen bräuchte? Wenn es keine allgemeine Impfpflicht bräuchte? Natürlich. Aber darum geht es jetzt nicht. Es geht darum, das Richtige zu tun. Es geht darum, Menschenleben zu schützen und zu retten. Ich bitte Sie, tragen Sie Ihren Teil dazu bei, dass wir diese vierte Welle so gut und so rasch wie möglich bewältigen.

Meine Damen und Herren, wir alle zusammen bilden eine freie, demokratische, solidarische Gemeinschaft, in der jede und jeder Einzelne Rechte hat. Etwa die Grund- und Freiheitsrechte, die Menschenrechte. Darum haben wir lange gerungen.

Aber um unsere Gemeinschaft am Leben zu erhalten, haben wir auch Menschenpflichten. Die Pflicht, füreinander da zu sein. Die Pflicht, nicht wegzusehen. Die Pflicht, zu helfen, zu handeln, die Pflicht, unsere Gemeinschaft zu schützen. Und unter den Umständen, in denen wir uns jetzt befinden, wird eine dieser Pflichten jetzt die Impfpflicht. Der Lockdown hilft uns die akute Welle zu brechen. Die Impfpflicht kann uns helfen, weitere Wellen zu verhindern. Je mehr geimpft sind, desto eher können wir die Corona-Krise beenden.

Meine Damen und Herren! Wenn ich von Gemeinschaft spreche, dann meine ich ausdrücklich uns alle. Die Gefahr ist groß, dass die Gräben jetzt noch tiefer werden. Aber das dürfen wir nicht zulassen. Wir gehören zusammen. Wir brauchen einander. Wir bedingen einander. Wir alle sind doch Österreich. Und wenn der Riss auch mitten durch Familien und Freundschaften geht, so müssen wir uns jetzt daran erinnern, dass wir eben Familien sind. Dass wir eben Freunde sind. Und die Familie und die Freundschaft letztlich stärker ist, letztlich stärker sein muss als dieses Virus.

Gegenseitige Schuldzuweisungen lösen jetzt nichts. Nichts wird jetzt besser, wenn wir mit dem Finger auf die jeweils anderen zeigen und unsere Wut gegen sie richten. Bitte hören wir auf damit. Blicken wir auf die Lösung.

Wir alle sind manchmal mutig und manchmal ängstlich, wir zweifeln und sind überzeugt, wir sind stark, wir sind schwach, wir alle wollen in Frieden und Gemeinschaft leben, und wir gehören zusammen. Es ist unsere Verantwortung als Bürgerinnen und Bürger, uns jetzt nicht von Wut, Schmerz und Ärger beherrschen zu lassen. Besinnen wir uns auf unsere Tugenden. Die Fähigkeit, das Gute im jeweils anderen zu sehen.

Und das Gute gibt es. Es zeigt sich in unseren Krankenhäusern: so viele Menschen, die sich seit mehr als 20 Monaten mit all ihrer Kraft und höchstem körperlichen und psychischen Einsatz gegen diese Pandemie stemmen und täglich Menschenleben retten. Wir sehen es auch in den Betrieben: so viele Menschen, die unangenehme Einschränkungen in Kauf nehmen, um andere zu schützen. Wir sehen das Gute in den Eltern, vor allem in vielen Frauen, die Doppel- und Dreifachbelastungen managen. Wir sehen es in all den Menschen, die dem Ärger nicht freien Lauf lassen.

Ich möchte Ihnen allen, liebe Österreicherinnen und Österreicher, dafür danken. Ich möchte mich besonders bei allen Pflegerinnen und Pflegern, bei allen Ärztinnen und Ärzten, bei allen Wissenschafterinnen und Wissenschaftern bedanken für ihren unermüdlichen Einsatz. Sie helfen uns allen. Ich möchte mich auch bei jenen Politikerinnen und Politikern bedanken - ausdrücklich auch jenen der parlamentarischen Opposition -, die in den Stunden der höchsten Not staatspolitische Verantwortung übernehmen. Dieser Geist, der das Gemeinsame über das Trennende stellt, der die Lösung zum Wohl aller über die eigenen Interessen stellt, der die faktenbasierte Vernunft als handlungsleitend sieht. Diesen Geist brauchen wir jetzt!

Meine Damen und Herren, die kommenden Wochen werden uns noch einiges abverlangen. Wir alle, jede und jeder einzelne müssen alles dafür tun, dass die vierte Welle gebrochen wird und die nächste verhindert werden kann. Lassen wir uns nicht auseinanderdividieren. Bilden wir eine starke, solidarische Gemeinschaft. Bitte helfen Sie mit. Ich danke Ihnen."