Die Australierin Elena Filipczyk ist 31 Jahre alt und war noch nie in einer Beziehung. Erst mit 28 wurde bei ihr Autismus festgestellt. Eine Diagnose, die viele ihrer bisherigen Probleme erklärte. Soziale Unsicherheit, sensorische Empfindlichkeiten und psychische Probleme begleiteten sie in ihrem Alltag. Wie viele Frauen erhielt sie die Diagnose spät. Studien zeigen, dass rund 80 Prozent der autistischen Mädchen bis zum 18. Lebensjahr unerkannt bleiben. Gründe dafür sind geschlechtsspezifische Unterschiede im Erscheinungsbild der Störung und veraltete Diagnosekriterien, die stark auf männliche Verhaltensmuster ausgerichtet sind.
Elena war eine der Klassenbesten an ihrer Schule, absolvierte ein Doppelstudium und wurde für ein Doktoratsstipendium vorgeschlagen. Gleichzeitig hatte sie aber kaum soziale Kontakte. Auch im Studium konnte sie mit gleichaltrigen Männern nicht in Kontakt treten. "Ich konnte den süßen Jungs in der Vorlesung nicht mal in die Augen schauen", wie sie es beschreibt.
Die Diagnose Autismus war für sie eine Erleichterung: "Endlich ergab mein Leben Sinn. Meine sensorischen Eigenheiten, meine psychischen Probleme und besonders meine soziale Unsicherheit", sagt sie. Doch auch mit Diagnose gestaltet sich der Alltag für sie schwierig. Elena lebt allein, beide Eltern sind verstorben, sie ist sozial isoliert. In der Hoffnung auf Hilfe stellte sie einen Antrag beim australischen Sozialsystem NDIS (National Disability Insurance Scheme), das Menschen mit Behinderungen gezielt unterstützen soll.
Nach einem Jahr des Wartens erhielt sie einen Anruf: Sie wurde aufgenommen. Ihre Erleichterung währte jedoch nur kurz. In einem ersten Gespräch fragte sie nach psychosexueller Therapie und Beckenbodenphysiotherapie. Sie erklärte, dass sie unter Vaginismus leide – eine Verkrampfung der Beckenbodenmuskulatur, die bei ihr mit sozialer Angst und früheren Traumata verbunden sei.
Die Sachbearbeiterin stellte die Verbindung zur Autismus-Diagnose infrage. "Nicht alle Menschen mit Autismus erleben Traumata", habe diese gesagt. "Und es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen Autismus und psychosexueller Therapie." Die angebotene Hilfe: Sprachtherapie und eine Assistenzperson, obwohl Elena keine Sprachprobleme hat und sonst im Alltag gut allein zurechtkommt.
"Ich bin eine autistische Frau, kein autistischer Mann", erklärt sie. "Ich brauche Therapie, um meine Angst vor Nähe zu überwinden und körperliche Schmerzen beim Sex zu lindern. Ich will Beziehungen führen können, wie jeder andere auch."
Elena ist mit ihrem Problem nicht allein. Studien zeigen, dass autistische Frauen häufiger unter sexuellen Funktionsstörungen leiden als autistische Männer und auch ein deutlich erhöhtes Risiko für sexuelle Übergriffe haben. Neun von zehn betroffenen Frauen gaben in einer aktuellen Studie an, bereits sexuelle Gewalt erlebt zu haben.
Diese Erfahrungen haben Folgen: In einer Bar kann Elena wegen ihrer Hörbeeinträchtigung kaum Gespräche führen. Kommt ein Mann auf sie zu, versteht sie ihn schlecht – er gibt bald auf. Sie erleidet daraufhin eine Panikattacke und verlässt den Ort.
Das Phänomen der späten oder fehlenden Diagnose betrifft auch die Schweiz. Hierzulande erhalten Mädchen und Frauen mit Autismus ebenfalls häufig erst spät eine Diagnose, oder gar keine. Wie die ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften) erklärt, zeigen Mädchen oft subtilere Symptome und imitieren das Verhalten ihrer Mitmenschen besser, wodurch Auffälligkeiten lange unentdeckt bleiben. Hinzu kommt: Viele Diagnoseverfahren orientieren sich an männlichen Mustern.