Einsamkeit, Überforderung, Stillstand: Viele Menschen warten wochenlang auf einen Therapieplatz. KI-basierte Tools könnten in der Zwischenzeit erste Unterstützung bieten. "20 Minuten" hat Psychotherapeutin Raffaela Witting zum Interview gebeten.
Raffaela Witting, wird KI bald die Psychotherapie ersetzen? Müssen Sie um Ihren Job bangen?
Ich sehe KI nicht als Konkurrenz – sondern als Chance. Es ist kein Entweder-Oder, sondern ein Miteinander. Die Technik kann den therapeutischen Alltag sinnvoll ergänzen - und auch präventiv wirken.
Welche Rolle übernimmt in diesem Miteinander die KI?
Sinnvoll eingesetzt, kann KI unterstützen und entlasten. Der hohe Bedarf an psychotherapeutischer Versorgung trifft vielerorts auf lange Wartezeiten und begrenzte Ressourcen. Das erlebe ich auch in meiner Praxis: Menschen melden sich in großer Not bei mir. Oft haben sie schon eine lange Wartezeit hinter sich. KI kann ihnen in dieser Zeit erste Impulse geben, Orientierung bieten und dabei helfen, ihre Gefühle zu sortieren. Ich sehe auch Potenzial im präventiven Bereich – etwa durch digitale Selbsthilfeangebote oder Tools zur Stimmungsbeobachtung.
Wie können Laien die Grenzen von KI-Systemen erkennen und verstehen, wann professionelle Hilfe erforderlich ist?
Wenn psychische Belastungen länger anhalten, den Alltag stark beeinträchtigen oder mit Leidensdruck verbunden sind, ist professionelle Hilfe von menschlichen Fachkräften erforderlich.
Bei welchen Problemen kann KI helfen – und bei welchen nicht?
Zum Beispiel bei Stress, Schlafproblemen oder ersten Anzeichen von Ängsten oder Stimmungstiefs. Durch die Strukturierung von Gedanken, den Aufbau von Routinen oder die Beobachtung von Stimmungen. Bei komplexeren psychischen Erkrankungen stößt KI jedoch an ihre Grenzen. Wie etwa bei Traumafolgestörungen, Persönlichkeitsstörungen oder schweren Depressionen. KI erkennt keine Risikomuster wie suizidale Tendenzen oder Traumafolgen. Wichtig ist auch, dass Datenschutz und Transparenz gewährt sind.
Was können Menschen besser?
Therapie lebt auch von emotionaler Resonanz und dem Erfassen nonverbaler Signale. KI kann strukturieren, erinnern, sortieren – aber nicht mitfühlen, nicht zwischen den Zeilen lesen, nicht intuitiv reagieren. In der Psychotherapie geht es oft um komplexe Beziehungserfahrungen, emotionale Verletzungen oder tief verankerte Muster. Diese können nicht allein über strukturierte Dialoge verändert werden. Menschen brauchen ein Gegenüber, das auch im Dazwischen präsent ist. Wichtig ist auch, dass hohe Anforderungen an Datenschutz und Transparenz erfüllt sein müssen.
Die KI entwickelt sich weiter – wird sie das vielleicht doch eines Tages alles können?
Das glaube ich nicht. KI kann zwar empathisch formulieren – aber sie spürt keine Reaktion, keine Unsicherheit, keine Veränderung im Raum.
Wo liegen Risiken im Einsatz von KI in der Psychotherapie?
Viele KI-Systeme reagieren freundlich und bestätigend. Was bei alltäglichen Anliegen hilfreich ist, wird bei suizidalen Gedanken oder Wahnideen problematisch. Nur weil eine KI verständnisvoll antwortet, ordnet sie die Situation nicht richtig ein. KI darf keine Diagnosen stellen, ohne dass ein Mensch die Verantwortung trägt.
Hat die KI bereits auch Einzug in die Arbeit von Therapeutinnen und Therapeuten gehalten?
Ja, ich arbeite mit der von einem Schweizer Start-Up entwickelten, KI-basierten Dokumentations-Software PlaynVoice. Ich nutze PlaynVoice, weil es in der Schweiz entwickelt wurde, Daten lokal speichert und speziell für den therapeutischen Kontext trainiert wurde – sogar inklusive Dialekten. Das schafft Vertrauen und spart mir wertvolle Zeit – mehrere Stunden pro Woche – die ich sonst mit dem Schreiben von Notizen verbracht hätte. Noch wichtiger: Ich kann mich im Gespräch ganz auf meine Patientinnen und Patienten konzentrieren. Auch so kann KI helfen – indem sie die Wartezeit auf Therapieplätze verkürzt.