Nach dem klaren Zuspruch von US-Präsident Donald Trump hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei seiner Rede vor der UNO-Vollversammlung die Welt dazu aufgefordert, noch entschlossener gegen Russland vorzugehen. Trump hatte zuvor erklärt die Ukraine könne mit Hilfe der EU und der Nato das gesamte von Russland eingenommene Staatsgebiet zurückerobern.
Die Ukraine brauche mehr Waffen und "Druck auf Russland", und zwar sofort, sagte Selenskyj am Mittwoch. Russland hingegen bleibt bei seinem Kurs und will den Angriffskrieg gegen die Ukraine fortsetzen. Aussagen von Trump über die wirtschaftliche Lage Russlands wurden von Moskau zurückgewiesen.
Ist das wirklich möglich? Dazu war am späten Mittwochabend Militäranalyst Berthold Sandtner zu Gast in der "ZIB2" bei ORF-Moderator Tobias Pötzelsberger. "Es ist natürlich eine andere Dimension. Spricht man davon, den russischen Vorstoß aufzuhalten, das ist in einer gewissen Weise vorstellbar. Rückerobern, das ist schon schwierig. Es fehlt an ganz wesentlichen Dingen dazu", so Sandtner, etwa der Luftkriegsfähigkeit, mit Raketen in russisches Gebiet eindringen zu können und "es fehlt ein technologisches Wunder".
Es gebe an der Front eine bis zu 20 Kilometer breite "Todeszone, die von Drohnen beherrscht wird", so der Militäranalyst. Dadurch gebe es "kaum Bewegung, auch die Russen können zur Zeit nicht wirklich angreifen". Der kritischste Punkt sei aber "konservativ geschätzt": Die Ukraine brauche mindestens rund eine halbe Million zusätzliche Soldaten, so Sandtner. Trump habe es der EU und der "europäischen Nato" zur Aufgabe gemacht, der Ukraine zu helfen, so der Experte, von US-amerikanischer Hilfe sei da keine Rede gewesen.
Es klinge etwas danach, als ob die USA vorhben könnten, weiter Waffen zu verkaufen, während andere direkt in den Krieg involviert seien, so Sandtner. Und solle, wie Trump erklärte, künftig bei Luftraumverletzungen geschossen werden? Er denke nicht, so der Militäranalyst. Russland gehe mit den Verletzungen "ein kalkuliertes Risiko" ein, "natürlich ist es eine Provokation und Eskalation", aber eine direkte, kriegerische Auseinandersetzung wolle wohl auch Russland vermeiden. Eine Überreaktion könne "sehr schnell in eine Eskalationsspirale" führen.
Selenskyj betonte bei seiner Rede im Rahmen der UNO-Generaldebatte, dass die Ukraine wegen der rasanten Entwicklung der Rüstungsindustrie auch selbst ihre militärischen Fähigkeiten ausgebaut habe. "Die Ukraine hat zwar keine großen, fetten Raketen, mit denen Diktatoren gerne bei Paraden prahlen, aber wir haben Drohnen, die bis zu 2000, 3000 Kilometer weit fliegen können", so Selenskyj. Und weiter: "Wir hatten keine andere Wahl, als sie zu bauen, um unser Recht auf Leben zu schützen."
Wie schon am Tag davor Trump, übte auch Selenskyj Kritik an der UNO. "Weil internationale Institutionen zu schwach sind, geht dieser Wahnsinn weiter", erklärte er vor den Spitzen der 193 UNO-Mitgliedsstaaten zum Krieg Russlands gegen die Ukraine. Selbst eine Mitgliedschaft bei der NATO garantiere heute keine Sicherheit mehr.
Putin wolle "diesen Krieg fortsetzen, indem er ihn ausweitet", sagte Selenskyj weiter und bezog sich dabei auf die jüngsten Luftraumverletzungen in osteuropäischen NATO-Ländern durch russische Drohnen und Kampfjets. Russland dehne sein Vorgehen bereits "auf andere Länder" aus.
Die russische Führung blieb nach Trumps Äußerungen vom Vortag über eine mögliche Rückeroberung besetzter Gebiete durch die Ukraine bei ihrer Linie. Moskau habe "keine Alternative", als die 2022 gestartete Militäroffensive in der Ukraine weiterzuführen, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Mittwochfrüh dem russischen Sender RBC.
Peskow widersprach Trumps Einschätzung, die Ukraine könnte das gesamte von Russland besetzte Staatsgebiet zurückerobern. "Die Vorstellung, dass die Ukraine etwas zurückerobern kann, ist aus unserer Sicht falsch", sagte er.
Auch Trumps Aussage, Russland sei nur ein "Papiertiger" und wirtschaftlich angeschlagen, wies Peskow scharf zurück. Russland sei "ein echter Bär" und halte "seine makroökonomische Stabilität", so Peskow. Er räumte aber ein: "Ja, Russland erlebt Spannungen und Probleme in verschiedenen Wirtschaftsbereichen."
Das russische Finanzministerium stellte am Mittwoch Pläne vor, die Mehrwertsteuer wegen der massiv gestiegenen Staatsausgaben seit Kriegsbeginn von 20 auf 22 Prozent zu erhöhen. Damit soll vor allem "Verteidigung und Sicherheit" finanziert werden, erklärte das Ministerium.
Bei einem Treffen mit Selenskyj am Rande der UNO-Vollversammlung in New York am Dienstag lobte Trump das ukrainische Militär: Er habe "großen Respekt vor dem Kampf der Ukraine. Das ist wirklich beeindruckend."
Später schrieb der US-Präsident auf seinem Onlinedienst Truth Social: "Ich denke, dass die Ukraine mit der Unterstützung der Europäischen Union in der Lage ist, zu kämpfen und die gesamte Ukraine in ihrer ursprünglichen Form zurückzugewinnen." Die Ukraine könne vielleicht sogar "noch weiter gehen", fügte er hinzu. In den Monaten davor hatte Trump immer wieder erklärt, die Ukraine müsse Territorium an Russland abtreten, damit der Krieg beendet werden könne.
Die Bundesregierung sieht in Trumps möglicher Kursänderung einen Hoffnungsschimmer. Seine Aussagen gäben Deutschland "Anlass zur Hoffnung, dass wir intensiviert jetzt nochmal über das Thema sprechen können", so Regierungssprecher Steffen Kornelius.
Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron äußerte sich positiv. "Das ist eine sehr klare Botschaft des amerikanischen Präsidenten, dass Russland zweifellos schwächer und zerbrechlicher ist, als viele gesagt haben", sagte Macron dem Sender France 24. Die "neue Perspektive" der USA zur Ukraine mache es möglich, "weiterhin Widerstand zu leisten und sogar Gebiete zurückzugewinnen".
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 wurden zehntausende Menschen getötet. Große Teile der Ost- und Südukraine sind zerstört, Millionen Menschen mussten flüchten. Die russischen Truppen kontrollieren derzeit rund ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebiets, darunter auch die bereits 2014 annektierte Halbinsel Krim.
Zuletzt hat die Ukraine ihre Angriffe auf Energieanlagen in Russland verstärkt. In der Nacht auf Mittwoch wurde eine Ölraffinerie in der zentralrussischen Region Baschkortostan angegriffen, es kam zu einem Großbrand. In der russischen Hafenstadt Noworossijsk östlich der Krim wurden zudem zwei Menschen durch ukrainische Drohnen getötet.
Die diplomatischen Bemühungen um ein Kriegsende blieben bisher erfolglos. Zuletzt zeigte sich Trump wiederholt enttäuscht vom Verhalten Putins, den er Mitte August zu einem Gipfel im US-Bundesstaat Alaska getroffen hatte.