Gesundheit

Trans-Behindert: Gesunde sitzt freiwillig im Rollstuhl

Die Osloerin ist gesund, identifiziert sich aber als behinderte Frau. Sie hat sich immer gewünscht, von der Hüfte abwärts gelähmt zu sein.

Sabine Primes
Jørund Viktoria Alme bei "Good Morning Norway".
Jørund Viktoria Alme bei "Good Morning Norway".
Screenshot "Good Morning Norway"/Youtube

Die Geschichte einer nicht behinderten Transfrau, die sich als behindert identifiziert, spaltet die sozialen Medien. In einem Interview bei "Good Morning Norway" erinnert sich Jørund Viktoria Alme aus Oslo (Norwegen) daran, dass sie sich schon immer gewünscht hat, als eine von der Hüfte abwärts gelähmte Frau geboren worden zu sein. Wer Norwegisch versteht, kann das Interview bei "Good Morning Norway" HIER nachsehen.

Da stellt sich die Frage: Wieso wünscht man sich so etwas?

Body Integrity Identity Disorder

Die 53-Jährige erklärt: Der Wunsch sei bereits als Kind immer durch bestimmte Situationen in ihr Bewusstsein gerufen worden. Etwa, als ein Mitschüler mit einer Schiene am Bein und Krücken in die Schule kam. "Mein Herz klopfte, mein Puls erhöhte sich und mein Körper wurde aktiviert. Ich war unglaublich konzentriert auf ihn und auf das, worum es hier ging", sagte Alme. "Im Nachhinein verstehe ich es so, dass ich die Situation erkannt habe und dass ich es war, der [an seiner Stelle] hätte sein müssen."

Mit Partnerin Agnes seit 31 Jahren zusammen und Eltern von zwei Söhnen, begann Alme vor fünf Jahren einen Rollstuhl zu benutzen. "Ich wusste nicht, was er bewirken würde, aber ich hatte ein Aha-Erlebnis, als ich in diesem Stuhl saß", so Alme. "Wenn meine Beine vollständig ruhen können, wird die [Körperintegritäts-Identitätsstörung] nicht mehr ausgelöst, sodass ich viel Ruhe habe und meine Ressourcen für andere Dinge nutzen kann."

Body Integrity Identity Disorder (BIID; Körperintegritäts-Identitätsstörung) heißt die Störung, bei der sich Menschen wünschen, dass ein Arm, ein Bein oder alle Gliedmaßen verschwinden, weil sie sich fremd anfühlen, wie störende Anhängsel des Körpers. Betroffene fantasieren oder simulieren die entsprechende Behinderung. Nur in Einzelfällen kommt es tatsächlich zu mutilierenden Selbstverletzungen oder medizinisch nicht begründeten Operationen. Eine ursächliche Behandlung ist derzeit nicht bekannt. Psychotherapie kann das psychische Leid jedoch mindern.

So tun als ob

Jetzt benutzt sie einen Rollstuhl, um sich fortzubewegen, es sei denn, sie muss aus praktischen Gründen gehen, zum Beispiel um in Flugzeuge ein- und auszusteigen. Betroffene, die sich wie Alme freiwillig im Rollstuhl befinden, werden auch "Pretender" genannt. Sie tun so, als wären sie behindert, indem sie sich ein Bein hochbinden, auf Krücken gehen oder sich in einen Rollstuhl setzen. "Ich hoffe, niemand nimmt es mir übel, dass ich den Rollstuhl als Hilfsmittel benutze, weil er mir hilft", sagte sie auf die Frage, wie die Leute auf ihre Situation reagieren könnten. Die Transfrau beschränkt sich jedoch auf den Rollstuhl, wie sie sagt: "Ich benutze zum Beispiel keine Behindertenparkplätze, weil ich in meiner Situation keine Verwendung dafür habe".

Unverständnis und Verständnis

Ihre Geschichte löste eine Lawine an Reaktionen auf Twitter aus, bei der Nutzer, darunter auch einige, die selbst behindert sind, ihre Empörung zum Ausdruck brachten. "Das ist so beleidigend. Ich bin ein Rollstuhlfahrer", schrieb ein Nutzer. "Ich habe unerträgliche Schmerzen mit Wirbelsäulen- und neurologischen Schäden. Das ist kein Scherz und für mich ist das eine Verhöhnung von mir und anderen, die schrecklich gelitten haben." Almes Geschichte erregte auch die Aufmerksamkeit des deutschen Politikers Georg Pazderski, der twitterte, dass Alme in der Vergangenheit "in der Psychiatrie gelandet wäre".

In den sozialen Medien ging es nach dem Interview hoch her. Die 18-jährige Norwegerin Emma Sofie Grimstad teilt auf TikTok, dass sie Anfang des Jahres zwei Monate lang mit Guillain-Barré (sehr seltene Erkrankung der Nerven) an den Rollstuhl gefesselt war: "Ich war teilweise gelähmt und erinnere mich, dass ich keine andere Wahl hatte, als im Rollstuhl zu sitzen. Meistens wurde ich von meinem Vater durch das Haus getragen. Hier ist eine Person mit funktionierenden Beinen, die sich dafür entscheidet, im Rollstuhl zu sitzen. Aber es gibt so viele, die diese Wahl nicht haben. Ich war in einer so hilflosen Situation."

Einige Kommentatoren hatten jedoch Verständnis für die Situation von Alme. "Ja, es ist seltsam und schwer zu verstehen. Wahrscheinlich ist es auch sehr provokant für tatsächliche Rollstuhlfahrer! Aber es steckt eine Diagnose dahinter! Psychische Krankheiten sind real, auch wenn sie manchmal völlig unverständlich erscheinen", schrieb ein Twitter-Nutzer. Ein anderer Nutzer antwortete: "Jørund V. Alme benutzt den Rollstuhl als das Hilfsmittel, das er ist. Daran ist für mich nichts Provokantes. Wenn ein Rollstuhl bei psychischen Störungen helfen kann, macht mich das einfach glücklich. Jeder hat ein Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit."