Wien

Türkei-Experte: Österreich hat ein großes Problem

Die Eskalation der Erdogan-Fans in Wien und anderen Städten Europas wirft ein Schlaglicht auf ein tiefgreifendes Problem, sagt Soziologe Kenan Güngör.

Roman Palman
Fast 74 Prozent der in Österreich lebenden Türken haben für Recep Tayyip Erdogan gestimmt.
Fast 74 Prozent der in Österreich lebenden Türken haben für Recep Tayyip Erdogan gestimmt.
SAMUEL WINTER / APA / picturedesk.com

Noch in dieser Woche wird Recep Tayyip Erdogan nach seinem Sieg in der Stichwahl den Amtseid ablegen und auf seine dritte Amtszeit als Präsident der Türkei eingeschworen. In Österreich und Deutschland kam es nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses zu Massenfeiern auf den Straßen, Autokorsos, Hupkonzerte und verbotene Wolfsgrüße inklusive. In Wien konzentrierte sich der Ansturm auf den Bereich Reumannplatz in Favoriten – "Heute" berichtete.

Doch warum sind gerade in Österreich und Deutschland so viele Erdogan-Fans daheim, während etwa in Großbritannien die Mehrheit der Auslandstürken für den Oppositionskandidaten Kemal Kilicdaroglu gestimmt hatten?

Der in Wien lebende Soziologe Kenan Güngör lieferte im Ö1-Morgenjournal die Erklärung: "Wenn wird die Weltkarte anschauen, wie die Menschen gewählt haben, fällt eines doch ganz klar auf: In den Aufnahmeländern der Arbeitsmigranten in den 1960er Jahren – Deutschland, Österreich, Frankreich, Belgien, Niederlande – hat Erdogan haushoch gewonnen, während überall anders Kilicdaroglu vorne steht."

Video: Eskalation nach Erdogan-Sieg in Wien

Herkunftsregion immer noch bestimmend

Die Ursache für diese Verschiebung habe auch tatsächlich mit der Arbeitsmigration in den 1960er Jahren zu tun. Die damaligen Zuwanderer seien vorrangig aus dem ländlichen, religiös-traditionellen Teil der Türkei gekommen. "Wir spüren den generationsübergreifenden Effekt, dass die Familie auch in dritter Generation diese Einstellungen weiter tradiert."

Und dazu komme noch, dass die Massenmedien in der Türkei von Erdogan-Propaganda durchseucht seien. Erdogan sei trotz einer massiven Wirtschaftskrise, unter der auch ein großer Teil der AKP-Wählerschaft leidet, und schlechtem Krisenmanagement nach dem Mega-Beben trotzdem gewählt worden.

Stimmenanteile Erdogan und Kilicdaroglu: So wählten Auslandstürken in der Stichwahl.
Stimmenanteile Erdogan und Kilicdaroglu: So wählten Auslandstürken in der Stichwahl.
APA-Grafik / picturedesk.com

Erdogans Propaganda-Maschine

"Da spielen Massenmedien eine unheimlich große Rolle", sagt Güngör. Er schildert auch, welche Narrativen den Türken dabei so aufgetischt werden: "Wenn Sie als normaler durchschnittlicher Bürger in der Türkei, aber auch im Ausland, türkische Medien anschauen, dann bekommen Sie nur eine Propaganda von Erdogan. Da wird zum Beispiel gezeigt, dass die Wirtschaftskrise nicht von ihm verschuldet ist, sondern, dass es ausländische Mächte sind und Erdogan ist der Einzige, der dagegen hält, und wir müssen unseren Präsidenten unterstützen im Kampf gegen diesen globalen, hinterhältigen Westen."

1/13
Gehe zur Galerie
    Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan stürmten nach dessen Wahlsieg auf die Straßen.
    Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan stürmten nach dessen Wahlsieg auf die Straßen.
    Lesereporter

    Österreich hat ein großes Problem

    Die Eskalation am Reumannplatz wirft für ihn ein Licht auf tiefgreifende Schieflage in Österreich: "Grundsätzlich ist das völlig nachvollziehbar, wenn Menschen feiern. [...] Tatsache ist, dass diese jungen Menschen für ein autoritäres Regime in einem demokratischen Rechtsstaat hinausgegangen sind. Das ist ein massives Problem." Dennoch dürfe man nicht vergessen: "Die Jugendlichen, die wir dort sehen, sind eigentlich nur die Symptome."

    1/13
    Gehe zur Galerie
      Der alte Neue: <a data-li-document-ref="100273560" href="https://www.heute.at/g/knappes-rennen-erdogan-setzt-sich-in-tuerkei-wahl-durch-100273560">Recep Tayyip Erdogan</a>, hier an der Seite seiner Frau Ermine, bleibt türkischer Präsident.
      Der alte Neue: Recep Tayyip Erdogan, hier an der Seite seiner Frau Ermine, bleibt türkischer Präsident.
      REUTERS

      Das zugrundeliegende Problem sei laut dem Soziologen vielmehr, "dass Teile der Türkischstämmigen in Österreich, die zum Teil auch integriert sind in der Gesellschaft, in die Schule und Arbeiten gegangen sind oder gehen, aber in der normativen weltanschaulichen Integration einem antidemokratischen System nachhängen."

      Dieses demokratiepolitische Problem müsse Österreich aktiv zu lösen beginnen. Güngör: "Nur uns zu ärgern, dass Menschen auf die Straße gehen, ist ein zu verkürzter Weg auf das dahinterliegende tiefere Problem. Wir müssen in den Schulen uns die Frage stellen, wie ist es möglich, dass, wenn Kinder zehn Jahre hier in die Schule gegangen sind, wir so wenig von dieser Demokratieorientierung mitgeben konnten."

      1/56
      Gehe zur Galerie
        <strong>04.05.2024: AstraZeneca gesteht erstmals schwere Nebenwirkungen ein.</strong> AstraZeneca sieht sich in Großbritannien mit einer Sammelklage konfrontiert. <a data-li-document-ref="120034852" href="https://www.heute.at/s/astrazeneca-gesteht-erstmals-schwere-nebenwirkungen-ein-120034852">In einem Gerichtsdokument gesteht der Konzern schwere Nebenwirkungen ein.</a>
        04.05.2024: AstraZeneca gesteht erstmals schwere Nebenwirkungen ein. AstraZeneca sieht sich in Großbritannien mit einer Sammelklage konfrontiert. In einem Gerichtsdokument gesteht der Konzern schwere Nebenwirkungen ein.
        REUTERS